Welche Anforderungen stellt die MDR an die Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten?
Die medizinische Behandlung von Patienten ist mit Risiken verbunden. Diese Risiken sind erheblich und gehen auch von Medizinprodukten selbst aus. Eine unzureichende Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten kann zu Benutzungsfehlern und damit zum Schaden oder sogar zum Tod von Patienten führen. Aus diesem Grund sind Hersteller von Medizinprodukten verpflichtet, einen Entwicklungsprozess durchzuführen, der sich an der Gebrauchstauglichkeit orientiert (Usability Engineering). Die europäische Medizinprodukteverordnung (MDR) misst der Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten eine hohe Bedeutung zu. Direkte Bezüge finden sich insbesondere im Anhang I, der die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen beschreibt.
Demnach soll der Hersteller u. a.
- Risiken aufgrund ergonomischer Merkmale des Produkts und der Produktumgebung verringern (Patientensicherheit),
- die technischen Kenntnisse sowie die gesundheitliche Verfassung der Anwender berücksichtigen (Anwendersicherheit),
- das Medizinprodukt so auslegen, dass Verletzungsrisiken durch physikalische Eigenschaften und ergonomische Merkmale des Produkts reduziert werden,
- Mess-, Kontroll- oder Anzeigeeinrichtungen so auslegen und herstellen, dass sie ergonomischen Grundsätzen entsprechen und
- Medizinprodukte zur Anwendung von Laien entsprechend auslegen und leicht verständliche Angaben dazu machen.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Anforderungen an die Gebrauchsanweisung. Diese finden sich vor allem im Kapitel III des Anhang I, das die „Anforderungen an die mit dem Produkt gelieferten Informationen“ beschreibt.
Zudem sollte der Hersteller den Aspekt Gebrauchstauglichkeit auch im Zuge der Verifizierung und Validierung seines Produkts als der Teil der präklinischen Bewertung berücksichtigen.
Auch nach dem Inverkehrbringen endet die Betrachtung der Gebrauchstauglichkeit nicht. Der Hersteller muss etwaige Vorkommnisse im Zuge der Überwachung nach dem Inverkehrbringen erfassen, ggf. mdelden, und die Gebrauchstauglichkeit des Produkts verbessern.
Wie setze ich die Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten um?
Die Norm IEC 62366-1 beschreibt einen „Usability Engineering Prozess“, der das Ziel hat, ein vertretbares Anwendungsrisiko eines Medizinprodukts sicherzustellen. Das Anwendungsrisiko eines Medizinprodukts sinkt, wenn es einfach bedienbar, erlernbar und benutzbar ist.
Dazu fordert die Norm, einen Usability Engineering Prozess durchzuführen, der sich ganzheitlich auf Transport, Lagerung, Installation, Betrieb, Wartung, Reparatur und Entsorgung des Medizinprodukts bezieht. Der Prozess enthält Maßnahmen zur Risikobeherrschung in Bezug auf das Design der Nutzerschnittstelle und zur Bereitstellung von Sicherheitsinformationen.
Die Prozessdokumentation findet im Usability Engineering File statt. Es gibt einen begleitenden technischen Bericht zur Norm IEC 62366-1, der genauer ausführt, wie ein Usability Engineering ausgestaltet werden kann (IEC TR 62366-2). Der Bericht ist umfassender als die Norm und beschäftigt sich nicht nur mit Gebrauchstauglichkeit in Bezug auf Sicherheit, sondern auch auf z. B. Genauigkeit, Aufgabenerledigung, Effizienz oder Nutzerzufriedenheit.
Da das für den Hersteller obligatorische Qualitätsmanagement nach ISO 13485 eng mit der Gebrauchstauglichkeit verwoben ist, spielt auch diese Norm hier eine Rolle. Ein unmittelbarer Bezug ergibt sich vor allem zum Kapitel 7 (Produktrealisierung) und zu den Unterabschnitten zu Design und Entwicklung.
Wie ist der Usability Engineering Prozess aufgebaut?
Zunächst muss der Hersteller eine „Use Specification“ erstellen. Diese enthält beispielsweise die medizinische Indikation, die Nutzergruppe, die Patientengruppe und die Körperregion. Es kann zum Beispiel einen Unterschied machen, ob ein Beatmungsgerät im Rettungswagen oder auf der Station eingesetzt werden soll.
Es folgt eine systematische Analyse der Nutzerschnittstelle mit Blick auf sicherheitskritische Eigenschaften, aus denen sich Nutzungsfehler („Use Errors“) ergeben können. In der Folge ermittelt der Hersteller Gefährdungen und Gefährdungssituationen als Teil der Risikoanalyse des Medizinprodukts. Die Norm weist an dieser Stelle darauf hin, Erkenntnisse vergleichbarer Medizinprodukte miteinzubeziehen.
Im Anschluss ermittelt und beschreibt der Hersteller gefährdungsbezogene Nutzungs-Szenarien, die alle Aufgaben, deren Reihenfolgen und die entsprechenden Schweregrade der Schäden enthalten. Es schließt sich die Erstellung einer „User Interface Specification“ an, die auch prüfbare technische Anforderungen umfasst sowie Angaben, ob eine Begleitdokumentation und ein spezifisches Training erforderlich sind.
Der Hersteller muss die Nutzerschnittstelle im Folgenden evaluieren. Dazu beschreibt die Norm IEC 62366-1 unterschiedliche Verfahren und Planungsschritte. Abschließend implementiert der Hersteller basierend auf den Evaluationsergebnissen die gebrauchstaugliche Ausgestaltung der Nutzerschnittstelle des Medizinprodukts.
Warum ist Usability Engineering auch wirtschaftlich sinnvoll?
Ein gebrauchstaugliches Medizinprodukt hat auch außerhalb von regulatorischen Anforderungen Vorteile. So erhält der Hersteller frühzeitig wertvolle Informationen, welche die Markteinführungszeit verkürzen können. Das Risiko von Designmängeln der Nutzerschnittstelle, deren Korrektur zeitaufwändig und teuer sein kann, ist geringer.
Außerdem sollte sich das Usability Engineering als Teil des verpflichtenden Risikomanagements insgesamt förderlich auf die Qualität der Produktakte und deren Bewertung auswirken.
Ein weiterer Vorteil ist die höhere Akzeptanz der Anwender durch mehr Bedienungsfreundlichkeit. Hieraus können Wettbewerbsvorteile resultieren. Auch das Training der Anwender ist einfacher, wenn der Hersteller intuitive Bedienungskonzepte fokussiert.
Insgesamt sollte weniger Beratung und Support durch den Hersteller erforderlich sein, um den Anwendern, Betriebskonzepte und Abläufe zu vermitteln. Anwender können Fehler zudem einfacher selbst beheben.
Wie führe ich ein Usability Engineering für medizinische Software durch?
Obwohl Gebrauchstauglichkeit fester Bestandteil der Medizinprodukteentwicklung ist und die Bedeutung durch die EU Medizinprodukteverordnung noch weiter zugenommen hat, sind viele Hersteller bzw. Entwickler von medizinischer Software nur wenig damit vertraut.
Dies betrifft sowohl die Entwicklung eigenständiger medizinischer Software als auch eingebetteter Software, die Teil eines Medizingeräts ist. Mit Blick auf die praktische Umsetzung des Usability Engineerings stellen sich zahlreiche Fragen:
- Wie stelle ich einen effizienten Usability Engineering Prozess für meine Software auf?
- Wie gestaltet sich der Zusammenhang zwischen Usability Engineering, Risikomanagement und klinischer Bewertung?
- An welchen Stellen des Produktlebenszyklus spielt Usability Engineering eine Rolle?
- Wie sieht der konkrete Ablauf des Usability Engineerings bei Software mit Blick auf Planung, Use Specification, Gefährdungsanalyse, User Interface Specification und Evaluierung aus?
Fazit
Hersteller sollten die Gebrauchstauglichkeit eines Produkts nicht vernachlässigen. Sie ist Teil des Risikomanagements, dass wiederum Bestandteil der regulatorischen Anforderungen ist.
Ein konsequent betriebener Usability Engineering-Prozess führt zu einer höheren Nutzerzufriedenheit. Anwendungsfehler treten seltener auf und der Umgang von Anwendern mit dem Produkt wird effizienter.
Um die Produktfunktionen an den Nutzerbedürfnissen auszurichten, sollte die Gebrauchstauglichkeit bereits in frühen Entwicklungsphasen mit berücksichtigt werden.
Zudem hat es Vorteile, das Usability Engineering von Fachleuten betreuen zu lassen, die nicht an der eigentlichen Herstellung des Produktes beteiligt sind. Als Außenstehende kennen diese das Produkt noch nicht und sind daher nicht mit Erwartungen und Erfahrungen “belastet”. Usability-Spezialisten kennen sich im Regelfall auch besser mit den geforderten Prozessen und Dokumentationen aus. Bitte sprechen Sie uns bei Fragen gerne an.