Die Kenntnis und die Definition der zu erwartenden Lebensdauer von Medizinprodukten sind für die Konformitätsbewertung und für den sicheren Betrieb von Medizinprodukten unerlässlich. Die Medizinprodukteverordnung (MDR) fordert an unterschiedlichen Stellen ausdrücklich die Angabe der Lebensdauer, z. B. bei Implantaten (Art. 18 c)), bei der „Überwachung nach dem Inverkehrbringen“ (Artikel 83) oder im „Regelmäßig aktualisierten Bericht über die Sicherheit“ (Artikel 86). Wesentlich ist, dass das Medizinprodukt während seiner gesamten Lebensdauer kein zusätzliches Risiko darstellen darf. Wir stellen bei unserer Beratungstätigkeit immer wieder fest, dass die Definition der Lebensdauer ein schwieriges Unterfangen sein kann. Deshalb geben wir Ihnen hier praktische Hinweise, welche Elemente bei der Definition zu berücksichtigen sind.
Definition der “erwarteten Lebensdauer”
Wie ist die zu erwartende Lebensdauer von Medizinprodukten definiert?
Eine explizite Definition des Begriffs findet sich in der Verordnung über Medizinprodukte (EU) 2017/745 (MDR) leider nicht. Allerdings ergibt sich aus Anhang I Kapitel I Nr. 6, dass „Die Merkmale und die Leistung des Produkts … [sich nicht derart ändern dürfen], dass die Gesundheit oder die Sicherheit des Patienten oder Anwenders oder gegebenenfalls Dritter während der Lebensdauer des Produkts gefährdet wird, wenn das Produkt Belastungen ausgesetzt wird, wie sie unter normalen Verwendungsbedingungen auftreten können, und es ordnungsgemäß entsprechend den Anweisungen des Herstellers instandgehalten wurde“ (EU) 2017/745 MDR Anhang I Kapitel I Nr. 6.
Oder einfacher: “Die erwartete Lebensdauer ist der Zeitraum, in dem das Medizinprodukt unter Normalbedingungen seine Funktion entsprechend seinem Risiko- und Nutzenprofil erfüllt, ohne ein zusätzliches Risiko für den Patienten darzustellen.“
Im Rahmen dieses Beitrags startet die “erwartete Lebensdauer” mit der Inbetriebnahme des Produkts beim Anwender. Ab diesem Zeitpunkt läuft sinngemäß diese Zeit ab.
Anmerkung: In anderem Kontext wird der Begriff teilweise etwas anders verwendet, z.B. als „zu erwartende Betriebs-Lebensdauer“ in DIN EN 60601-1.
Darüber hinaus ist noch die Haltbarkeitsdauer von Bedeutung, die beispielsweise bei Sterilprodukten den Zeitpunkt beschreibt, bis zu dem das Produkt sicher verwendet werden kann (Eigenschaft: Sterilität). Hier startet der Ablauf der Zeit mit Abschluss des Verpackungs- und Sterilisationsprozesses.
Haltbarkeitsdauer („Shelf Life“)
Die Haltbarkeitsdauer, im Englischen „shelf life“, definiert den Zeitraum, bis zu dem das Produkt (bei angemessener Lagerung und Transport) für die vorgesehene Verwendung geeignet bleibt.
Bis zu diesem definierten Zeitpunkt kann erwartet werden, dass das Produkt seine definierten Eigenschaften (beispielsweise: Sterilität, Sicherheit, Leistung) behält.
Diese Zeitdauer kann sich von der “erwarteten Lebensdauer” unterscheiden. Beispiel: bei einem Gerät mit interner Stromversorgung könnte die „shelf life“ kürzer sein als die “erwartete Lebensdauer”, da sich die interne Stromversorgung (die „Akkus“) bei der Lagerung entladen könnten.
Ermittelt werden kann diese Zeitdauer durch objektive Nachweisführung, beispielsweise durch Validierung des Produktaufbaus, des verwendeten Sterilprozesses und der Transport- und Lagerungsbedingungen. Materialeigenschaften nehmen Einfluss, so dass etwa ein Materialabbau (Degradation) mit der Zeit zu berücksichtigen wäre. Die Haltbarkeit wird ebenso beeinflusst von der Verpackung, den Lagerungsbedingungen (Temperaturschwankungen, Feuchtigkeit, Strahlenbelastung) und weiteren Faktoren.
Bei bestimmten Produkttypen wie Sterilprodukten ist das Verfallsdatum eine feste Größe. Nach Überschreiten des angegebenen Zeitraums ist auch bei unbeschädigter Verpackung nicht mehr sichergestellt, dass das Produkt steril ist. Denn tatsächlich testen, ob das Produkt noch steril ist, kann man nicht, ohne diese Eigenschaft zu kompromittieren.
Bei anderen Produkten (Beispiel: Batterien) könnte man hingegen durch geeignete Tests feststellen, ob diese noch ausreichende Kapazität haben und (ggf. mit Einschränkungen) zum Einsatz kommen können, auch wenn das angegebene Verfallsdatum überschritten ist (weiche Grenze).
Auch Software kann ein „Verfallsdatum“ haben
Auch wenn es überraschend klingt: selbst „reine“ Software-Produkte (Software as Medical Device – SaMD) können eine begrenzte Haltbarkeit und damit ein Verfallsdatum haben. Das gilt genauso für SiMD („Software in Medical Device“, also „Embedded Software“).
Zum einen – darauf gehen wir weiter unten ein – können äußere Faktoren dazu führen, dass die Software nicht mehr installiert und ausgeführt werden kann. In diesem Fall hätte die Software, die sich im „Regal“ (Shelf) befindet ihr Verfallsdatum erreicht bzw. überschritten.
Doch bedenken Sie: auch etwaige kryptografische Zertifikate, die eine Gültigkeitsdauer und damit ein Verfallsdatum (!) haben, führen zu einer begrenzten Haltbarkeitsdauer – auch von SaMD bzw. SiMD.
Lebensdauer (Betriebsdauer bis zum Ausfall)
Durch Ermitteln der MTTF (Mean-Time-To-Failure) im Rahmen einer Zuverlässigkeitsprüfung kann die mittlere Zeitspanne gefunden werden, bis zu der das Produkt (statistisch gesehen) einen Ausfall zeigt. Sie wird deshalb auch als „mittlere Lebensdauer“ bezeichnet.
Darüber hinaus ist die MTTFD bekannt, die mittlere Zeit bis zu einem gefahrbringenden Ausfall (englisch Mean-Time-To-Dangerous-Failure).
Sofern der Ausfall des Produkts ein Risiko für den Patienten darstellt, sind MTTF und MTTFD gleichwertig zu betrachten, im Sinne unserer Definition der Lebensdauer als: “Zeitraum, in dem das Medizinprodukt unter Normalbedingungen seine Funktion entsprechend seinem Risiko- und Nutzenprofil erfüllt, ohne ein zusätzliches Risiko für den Patienten darzustellen” (s.o.).
Beachten Sie: MTTF/MTTFD sind statistische Größen, sie sagen nichts über ein individuelles Produkt aus.
Sie werden über Versuche oder Erfahrungswerte ermittelt. Dabei wird die Benutzung des Medizinprodukts in seiner Gesamtheit oder ersatzweise festgelegter, relevanter Funktionen, ggf. in Zyklen oder Perioden, basierend auf den zu erwartenden (realistischen / praxisrelevanten) Verwendungsszenarien, simuliert.
Diese auch als Dauerhaftigkeitsprüfungen bekannten Tests geben Aufschluss darüber „wie lange es dauert, bis ein Fehler am Produkt auftritt“.
Inspektion, Wartung und Reparatur verlängern die Lebensdauer
Bei einem Sterilprodukt endet die Eigenschaft „steril“ spätestens beim Öffnen der Verpackung; bei einem Produkt, das nicht repariert werden kann, endet die Lebensdauer mit dem Erreichen der MTTF/ MTTFD. Ein Beispiel für ein solches Produkt ist die Glühlampe.
Bei reparierbaren Produkten hingegen kann durch präventive Maßnahmen die zu erwartende Lebensdauer verlängert werden. Bei der regelmäßigen Inspektion kann festgestellt werden, ob sich die Eigenschaften des Produkts verändert haben. Darauf folgend könnte eine Wartung (z.B.: interne Stromquellen austauschen, schmieren) oder Reparatur durchgeführt werden. Vorbeugende Wartung hingegen führt derartige Tätigkeiten präventiv aus, auch ohne, dass sich die Eigenschaften des Produkts verändert haben müssen. Beispiel: präventiver Austausch von Verschleißteilen, bevor sich Verschleiß auf die Eigenschaften des Produkts auswirken kann.
Dabei hilft folgendes Vorgehen: die Intervalle für vorbeugende Wartung / Reparatur werden so gewählt, dass sie mit einem entsprechenden Sicherheitsfaktor zuverlässig innerhalb der Zeitspanne vor Erreichen der MTTF/MTTFD liegen.
Durch die Inspektion / vorbeugende Wartung / Reparatur startet die Zeitspanne nun weder neu, denn das Produkt besitzt wieder sämtliche definierten Eigenschaften vergleichbar einem neuen Produkt.
Anmerkung: man spricht bei reparierbaren Produkten auch von der MTBF (Mean-Time-Between-Failures).
Allerdings liegt die Verantwortung für die Umsetzung dabei nicht allein bei den Herstellern!
Der Betreiber ist in der Verantwortung
Wird die Lebensdauer vom Hersteller so definiert, dass sie länger als die Zeitspanne zum Erreichen eines Ausfalls (also MTTF/MTTFD) ist, so müssen die erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen (Inspektion (auch: sicherheitstechnische oder messtechnische Kontrollen) / vorbeugende Wartung / Reparatur) an den Betreiber kommuniziert werden
Denn diese vorbeugenden und erhaltenden Maßnahmen müssen vom Betreiber durchgeführt werden! Kommt der Betreiber diesen Vorgaben nicht nach, können Risiken entstehen.
Sonderfall: Software
Die angestellten Betrachtungen zu MTTF/MTTFD treffen bei Software nicht zu, denn Software verschleißt nicht in der Art und Weise wie Hardware.
Dennoch ist es wichtig, auch für Software und insbesondere für SaMD die “erwartete Lebensdauer” zu definieren. Doch wie, wenn die Software nicht durch die Benutzung, also die Ausführung von Code, altert oder verschleißt? Bei der Definition der erwarteten Lebensdauer ist bei Software in Betracht zu ziehen, dass diese durch äußere Faktoren altert.
Ein derartiger Faktor könnte beispielsweise das verwendete Betriebssystem sein. Ab einem gewissen Zeitpunkt unterstützt das aktualisierte Betriebssystem (denken Sie an notwendige Patches in Hinblick auf Security-Vorfälle!) das Medizinische Software-Produkt nicht mehr – das Ende der Lebensdauer ist erreicht!
Gleiches gilt für neuere Hardware, welche das Software-Produkt nicht mehr unterstützt und damit das Ende der Lebensdauer des Software-Produkts bedeutet.
Zur Vermeidung von Überraschungen sollten Sie als Hersteller die zu erwartende Lebensdauer Ihres Software-Produkts unabhängig von solchen äußeren Einflüssen festlegen, beispielsweise über die Festlegung, dass die Lebensdauer des Software-Produkts mit Einstellung des Supports endet. Das Support-Ende könnte nun als fester Zeitraum festgelegt werden (bis zu einem bestimmten Datum: Tag/Monat/Jahr) oder als eine Zeitspanne nach Erscheinen einer neuen Major-Release.
Denn (siehe oben): innerhalb der zu erwartenden Lebensdauer müssen die Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen eingehalten werden – das Produkt darf innerhalb der zu erwartenden Lebensdauer kein zusätzliches Risiko entwickeln!
Kontaktieren Sie uns. Wir erarbeiten gerne gemeinsam mit Ihnen die notwendigen Vorgehensweisen, stellen Vorlagen zur Verfügung, begleiten Sie bei der Umsetzung und unterstützen Sie bei allen regulatorischen Fragen.