Elektrisch betriebene Medizinprodukte müssen besonderen Sicherheitsanforderungen genügen. Die Normenreihe IEC 60601 mit der Basisnorm IEC 60601-1 “Medizinische elektrische Geräte – Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale” beschreibt diese Anforderungen und ist daher eine der wichtigsten und auch umfangreichsten Normen bei Medizinprodukten.
Begriffsbestimmung
Zunächst hier eine Klarstellung, um häufig auftretende Unklarheiten im Vorfeld auszuräumen.
Ein „aktives Medizinprodukt“ ist ein Produkt, dessen Betrieb von einer Energiequelle mit Ausnahme, der für diesen Zweck durch den menschlichen Körper oder durch die Schwerkraft erzeugten Energie abhängig ist und das mittels Änderung der Dichte oder Umwandlung dieser Energie wirkt. Ein Produkt, das zur Übertragung von Energie, Stoffen oder anderen Elementen zwischen einem aktiven Produkt und dem Patienten eingesetzt wird, ohne dass dabei eine wesentliche Veränderung von Energie, Stoffen oder Parametern eintritt, gilt nicht als aktives Produkt. Software gilt ebenfalls als aktives Produkt. (siehe Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (MDR), Art.2, Abs. 4). Ein „aktives Medizinprodukt“ kann auch durch andere Energieformen als elektrische Energie betrieben werden, etwa pneumatische oder hydraulische.
Ein Medizinisches Elektrisches Gerät (ME-Gerät) hingegen ist ein elektrisch betriebenes Gerät, das entweder ein sog. „Anwendungsteil“ besitzt (das ist ein Teil des Geräts, das bei Verwendung mit dem Patienten in Kontakt kommt (Beispiel: Elektroden, Lagerflächen, …), das Energie zum Patienten überträgt (Beispiel: Röntgenstrahlen, Wärmestrahlen, …) oder das eine solche Energieübertragung anzeigt.
Darüber hinaus gibt es noch den Begriff „Medizinisches Elektrisches System (ME-System)“, was eine Kombination („Funktionsverbindung“) aus einzelnen Geräten beschreibt, von denen mindestens eines dieser Geräte im System ein ME-Gerät ist.
Vereinfacht dargestellt: ein ME-Gerät ist i.d.R ein aktives Medizinprodukt, aber ein aktives Medizinprodukt muss nicht notwendigerweise ein ME-Gerät sein.
Anwendungsbereich
Die Norm IEC 60601-1 mit ihren Kollateralen Standards und den Sonderteilen (s.u.) gilt für die Basissicherheit und die wesentlichen Leistungsmerkmale von ME-Geräten und ME-Systemen.
Dabei beschreibt die Basissicherheit (engl.: „Basic Safety“) die „Freiheit von unvertretbarem, durch physikalische Gefährdungen direkt verursachtem Risiko“ (Beispiel: elektrischer Stromschlag, quetschen von Körperteilen, …). Die wesentlichen Leistungsmerkmale (engl.: „essential performance“) beziehen sich hingegen auf die klinischen Funktionen. Ein wesentliches Leistungsmerkmal liegt vor, wenn ein unvertretbares Risiko entsteht, sobald sich eine solche Funktion über spezifizierte Grenzen hinaus verschlechtert oder gar nicht mehr zur Verfügung steht.
Sämtliche Anforderungen der Norm zielen darauf ab, diese beiden Kernprinzipien sicherzustellen, sowohl im Normalbetrieb, im Fall des ersten Fehlers und bei der Wartung.
Was liegt außerhalb des Anwendungsbereichs?
Die Normenreihe IEC 60601 gilt nicht für In vitro-Diagnosegräte. Hier kommt die Normenreihe IEC 61010 zur Anwendung (bitte beachten Sie, dass zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags zwei Berichtigungen vorhanden sind). Ebenso gilt sie nicht für implantierbare Teile aktiver implantierbarer Medizingeräte, für die die Normenreihe ISO 14708 zutrifft, sowie nicht für medizinische Gasversorgungssysteme, die in der Normenreihe ISO 7396-1 spezifiziert werden.
Aufbau
Der Aufbau der Normenreihe IEC 60601 besteht zunächst aus einer Basis-Norm (IEC 60601-1), welche die allgemeinen Anforderungen an alle ME-Geräte festlegt. Sie bildet die Grundlage, auf die sich die weiteren Standards der Reihe beziehen.
Da die Basis-Norm für alle ME-Geräte anwendbar ist, führt das dazu, dass die Inhalte recht allgemein sind. Um spezifische Themen zu beschreiben, die eben nicht für die Allgemeinheit der ME-Geräte zutreffend sind, werden in den Ergänzungsnormen, den „Collateral Standards“, spezielle Themen behandelt. In Bezug auf die Nomenklatur werden die Ergänzungsnormen mit 60601-1-X bezeichnet und beinhalten Festlegungen für die Basissicherheit und die wesentlichen Leistungsmerkmale für spezielle Geräte-Untergruppen (z. B. radiologische Geräte) oder für bestimmte Eigenschaften aller ME-Geräte, bei denen eine weitere Präzisierung der Basis-Norm erforderlich ist. Im Einzelnen gibt es die folgenden Ergänzungsnormen:
- IEC 60601-1-1: (Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit; Ergänzungsnorm: Festlegungen für die Sicherheit von medizinischen elektrischen Systemen.) Zurückgezogen; der Inhalt wurde in IEC 60601-1, Kap. 16 „ME-Systeme“ eingearbeitet.
- IEC 60601-1-2: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Elektromagnetische Störgrößen – Anforderungen und Prüfungen.
- IEC 60601-1-3: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Strahlenschutz von diagnostischen Röntgengeräten
- IEC 60601-1-4: (Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit; Ergänzungsnorm: Programmierbare elektrische medizinische Systeme.) Zurückgezogen; der Inhalt wurde zum Teil in IEC 60601-1, Kap. 14 „Programmierbare elektrische medizinische Systeme (PEMS)“ eingearbeitet. In diesem Kapitel findet sich auch der normative Verweis auf IEC 62304. Die Inhalte zum Risikomanagement befinden sich in ISO 14971.
- IEC 60601-1-6: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Gebrauchstauglichkeit. Die Norm ist gültig, allerdings wurde sie von der IEC 62366-1 defacto abgelöst. In unserem Fachbeitrag Gebrauchstauglichkeit und Usability Engineering für Medizinprodukte erläutern wir diesen Aspekt ausführlich.
- IEC 60601-1-8: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Alarmsysteme – Allgemeine Festlegungen, Prüfungen und Richtlinien für Alarmsysteme in medizinischen elektrischen Geräten und in medizinischen elektrischen Systemen.
- IEC 60601-1-9: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Anforderungen zur Reduzierung von Umweltauswirkungen.
- IEC 60601-1-10: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Anforderungen an die Entwicklung von physiologischen geschlossenen Regelkreisen.
- IEC 60601-1-11: Besondere Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Anforderungen an medizinische elektrische Geräte und medizinische elektrische Systeme für die medizinische Versorgung in häuslicher Umgebung.
- IEC 60601-1-12: Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit einschließlich der wesentlichen Leistungsmerkmale – Ergänzungsnorm: Anforderungen an medizinische elektrische Geräte und medizinische elektrische Systeme in der Umgebung für den Notfalleinsatz.
Diese Ergänzungsnormen zielen auf bestimmte Eigenschaften ab, sind aber immer noch nicht spezifisch genug, um konkrete Anforderungen an bestimmte Geräte zu formulieren. Zu diesem Zweck gibt es in der IEC 60601-Normenreihe eine noch weiter gehende Verfeinerung: die “Besonderen Festlegungen”, die Particular Standards, auch als „Produktnormen“ bezeichnet. Sie genügen in der Regel der Nomenklatur IEC 60601-2-XY und beschreiben spezielle Aspekte für die grundlegende Sicherheit und die wesentlichen Leistungsmerkmale von spezifischen ME-Geräten.
Wie werden diese Normen nun gelesen und angewendet?
Sollten „Besondere Festlegungen“ anwendbar sein, können diese die Anforderungen der Ergänzungsnormen abändern, ersetzen oder für ungültig erklären. Eine Ergänzungsnormen (ggf. mit der Modifikation durch „Besondere Festlegungen“) kann nun die Anforderungen der Basis-Norm („Allgemeine Anforderungen“) ergänzen, abändern, ersetzen oder für ungültig erklären. Das Ergebnis ist die Anforderung an das Produkt.
Vereinfacht dargestellt: (die „höherwertigste“ Norm kommt in dieser Reihenfolge als Erste): Besondere Festlegungen -> Ergänzungsnormen -> Allgemeine Anforderungen.
Allgemeine Anforderungen
Der Kerngedanke der IEC 60601-1 ist die Erstfehlersicherheit von ME-Geräten, ergänzt um das Risikomanagement. Erstfehlersicherheit kann dann als gegeben betrachtet werden, wenn während der zu erwartenden Betriebsdauer kein unvertretbares Risiko auftritt, obwohl ein erster Fehler eingetreten ist oder eine einzelne, anormale äußere Bedingung (Beispiel: Ausfall der Stromversorgung oder überhöhte Spannung an einem Signaleingang oder Signalausgang) vorliegt. Das Risikomanagement geht darauf basierend noch weiter: der Hersteller verwendet die Ergebnisse der Risikoanalyse, um mögliche weitere Fehler zu simulieren und Ausfälle zu prüfen.
Eine weitere Aufgabe der obligatorischen Risikoanalyse ist, dass Hersteller die “wesentlichen Leistungsmerkmale” der klinischen Funktionen des ME-Gerätes oder Systems bestimmen müssen. Ein wesentliches Leistungsmerkmal liegt vor, wenn ein unvertretbares Risiko entsteht, sobald sich eine solche Funktion über spezifizierte Grenzen hinaus verschlechtert oder gar nicht mehr zur Verfügung steht. Somit sind sie für den bestimmungsgemäßen Gebrauch des ME-Gerätes bzw. Systems erforderlich oder sie sind sicherheitskritisch. Ziel des Risikomanagement-Prozesses ist es dann, mittels geeigneter Methoden etwaige Risiken zu beherrschen und die wesentlichen Leistungsmerkmale aufrechtzuerhalten.
Doch die IEC 60601-1 geht im Zuge von Risikobewertung, Risikomanagement und Risikobeherrschung eines ME-Gerätes bzw. Systems auch auf bestimmte sicherheitskritische Aspekte gesondert ein. Dazu gehören die zu erwartende Betriebs-Lebensdauer (siehe auch unser Fachartikel „Erwartete Lebensdauer von Medizinprodukten: Was bedeutet das genau?“), Anforderungen an von Patienten berührbare Teile und Komponenten, die technische Eignung der Stromversorgung und spezifische Charakteristika der Leistungsaufnahme.
Allgemeine Anforderungen zum Aufbau von ME-Geräten sind über die einzelnen Kapitel der IEC 60601-1 verteilt. Ihnen allen gemeinsam ist, neben der Forderung, dass ein entsprechendes Sicherheitsniveau gewährleistet werden muss, die Gebrauchstauglichkeit (Verweis auf IEC 62366-1). ME-Geräte müssen gebrauchstauglich angeordnete Bedienelemente vorweisen und so konstruiert sein, dass ein angemessener Zugang für Zwecke der Instandhaltung gewährleistet ist.
Zusammenfassung: neben festgelegten Grenzwerten, die Mess- und testbar sind, ist ein zentraler Bestandteil der IEC 60601-1 der Risikomanagement-Prozess. Dieser ist für die Einhaltung der Norm erforderlich. Das Risikomanagement erfolgt nach der einschlägigen Risikomanagement-Norm ISO 14971. Die IEC 60601-1 referenziert ausdrücklich auf die ISO 14971, ermöglicht aber Ausnahmen, vor allem mit Blick auf die Produktion und auf Nachprüfungen. Wie ein Risikomanagement-Prozess im Detail durchgeführt wird, finden Sie im ausführlichen Fachbeitrag zum Thema Risikomanagement für Medizinprodukte.
Weitere allgemeine Anforderungen der IEC 60601-1 beziehen sich auf repräsentative Stichprobenprüfungen von ME-Geräten. Darin enthalten sind Festlegungen zur Anzahl der Prüflinge, zu Umgebungstemperatur, Feuchte und Feuchtevorbehandlung, Druck, Betriebsbedingungen, Prüffolgen, Stromversorgung sowie zur Verfahrensweise mit Anwendungsteilen und berührbaren Teilen.
Klassifizierung, Kennzeichnung und Begleitpapiere
Die Norm IEC 60601-1 teilt ME-Geräte und ME-Systeme in Schutzklassen ein, die vom Hersteller definiert und ausgewiesen werden müssen. Wesentliche Kriterien sind:
- Schutz gegen elektrischen Schlag
- Schutz gegen schädliches Eindringen von Wasser oder festen Stoffen
- Sterilisationsverfahren
- Eignung für den Gebrauch in Sauerstoff angereicherter Umgebung
- Betriebsart (Dauerbetrieb oder Nicht-Dauer-Betrieb)
Entsprechenden Kennzeichnungen und Aufschriften müssen auf dem Gerät lesbar und dauerhaft angebracht sein, wofür spezielle Symbole definiert sind.
IEC 60601-1 legt einen großen Fokus auf die Information, die dem Anwender des Geräts (aber auch demjenigen, der etwa Wartungsarbeiten durchführt) mitgegeben wird, etwa Angaben zu Netzspannungen oder Stromart bei ME-Geräten mit Anschluss an ein Versorgungsnetz oder ob das Gerät eine interne Stromversorgung besitzt. Dazu kommen Angaben zum Ort einer Aufschrift, d.h. an der Geräteaußen- oder -innenseite oder aber an Bedienelementen und Anzeigeeinrichtungen. Spezifiziert werden auch zu verwendende Sicherheits- und Bildzeichen, Farben der Leitungsisolierung, Signallampen und Bedienelemente, Kennzeichnung des Schutzleiter-Anschlusses, Potentialausgleich, etc.
Neben Aufschriften auf dem Gerät bzw. seinem Typenschild sind auch Informationen in den Begleitpapieren (Gebrauchsanweisung und technische Beschreibung) zu übergeben. Diese Begleitpapiere sind integraler Bestandteil eines ME-Geräts und unterliegen damit ebenfalls den Prüfanforderungen der IEC 60601-1.
All diese Informationen (Begleitpapiere, Aufschriften auf dem Gerät, Bedien- und Anzeigeelemente, …) müssen auf ihre Gebrauchstauglichkeit hin untersucht werden – siehe IEC 60601-1-6 und insbesondere IEC 62366-1.
Schutz gegen Gefährdungen
Neben den bereits beschriebenen Anforderungen bzgl. der „Wesentlichen Leistungsmerkmale“ und dem Risikomanagement befasst sich ein großer Teil der Norm IEC 60601-1 mit Festlegungen zum Schutz gegen direkte Gefährdungen, die von ME-Geräten ausgehen können, der sog. „Basissicherheit“.
Eine wesentliche Gefahrenquelle von ME-Geräten ist natürlich der elektrische Strom selbst, so dass die Norm grundlegende Aussagen zum Schutz vor diesen elektrischen Gefährdungen macht. Dabei ist zu beachten, dass nicht allein der elektrische Schlag, sondern auch die Ableitströme relevant sind. Je nach Anwendung können diese ebenfalls zu Herzkammerflimmern und damit im schlimmsten Fall zum Tod führen. Deshalb werden Anforderungen an Stromquellen und die Begrenzung von Spannung, Strom und Energie gestellt. Auch die elektrische Trennung von Bauteilen, Anschlüssen, Leitungen usw. durch geeignete konstruktive Maßnahmen ist Gegenstand der Festlegungen. Weitere Spezifikationen betreffen die Auslegung der Schutzleiterverbindung, die Begrenzung von Ableit- und Hilfsströmen, Dimensionierung von Kriech- und Luftstrecken, Auswahl von Bauelementen, Konstruktion von Leitungsverbindungen und die Auslegung von Netzteilen.
Eine weitere Gefahrenquelle ergibt sich aus den mechanischen Eigenschaften des Geräts. Bewegte Teile, Oberflächen, Ecken, Kanten oder Instabilitäten können zu unterschiedlichsten mechanischen Gefährdungen führen, wie z. B. Quetschen, Einklemmen, Abschürfen oder Schneiden. Die IEC 60601-1 beschreibt daher eine Vielzahl von Anforderungen in Bezug auf sich zueinander bewegende Teile (zwischen denen man sich einklemmen kann), Sicherheitsabstände, Schutzvorrichtungen, Anschläge oder Positionierungen. Zudem gibt es Festlegungen in Bezug auf Schwingungen und Schallenergie sowie auf Druckbehälter und Tragesysteme.
ME-Geräte müssen eine ausreichende mechanische Festigkeit nachweisen und eine Reihe definierter Prüfkriterien erfüllen. Beispiele sind Stoß-, Schlag- und Fallfestigkeit. Generell müssen Gerätekomponenten so ausgelegt und verbaut werden, dass mögliche Schäden wie oben beschrieben minimiert werden.
Auch übermäßige Strahlung kann zu Gefährdungen führen. Dies betrifft Röntgenstrahlung, alpha-, beta-, gamma-, Neutronen- und sonstige Korpuskularstrahlung, Mikrowellen, Laser und sonstige sichtbare elektromagnetische Strahlung sowie Infrarot- und Ultraviolettstrahlung. Festlegungen betreffen vor allem Strahlungsmengen und -bestimmungsmethoden bzw. entsprechende Leistungswerte. In diesem Zusammenhang finden sich auch häufig Besondere Festlegungen und Ergänzungsnormen.
Weitere Gefahrenquellen, die ebenfalls in Zusammenhang mit Energie stehen, sind übermäßige Temperaturen und Brände. Die IEC 60601-1 legt maximal zulässige Temperaturen von Geräten unter bestimmten Bedingungen fest, etwa, ob ein Hautkontakt besteht oder eine Berührung wahrscheinlich ist. Auch die Umgebung, in der ein ME-Gerät betrieben wird, muss berücksichtigt werden. Daher werden Anforderungen beispielsweise an den Betrieb von ME-Geräten in sauerstoffangereicherter Atmosphäre oder an die Brandfestigkeit von Gehäusen gestellt.
Zudem spielen Faktoren wie Überlaufen, Verschütten, Auslaufen, Eindringen von Flüssigkeiten oder festen Materialien, Reinigung, Desinfektion, Sterilisation und Substanzverträglichkeiten sowie die Biokompatibilität bei Teilen, die berührt werden oder in Kontakt mit Patienten, Anwendern oder Dritten kommen, eine wichtige Rolle mit Blick auf Gefährdungspotenziale.
Medizinische Software
Die ursprünglich vorhandene Ergänzungsnorm zu Software (IEC 60601-1-4 Allgemeine Festlegungen für die Sicherheit; Ergänzungsnorm: Programmierbare elektrische medizinische Systeme) wurde zurückgezogen – siehe oben.
Die Betrachtung von Software ist nun in Kap. 14 der Norm IEC 60601-1 enthalten; sie wird “Programmierbares Elektrisches Medizinisches System”, kurz “PEMS”, genannt. Wichtig: eine eigenständige Software (z.B. eine APP) ist zwar gemäß MDR ein aktives Produkt, aber sie erfüllt nicht die Kriterien für ein ME-Gerät. Deshalb ist die IEC 60601-1 nicht auf eine eigenständige Software (SaMD – Software as Medical Device) anwendbar.
Essenzielle Forderung: bei der Software-Erstellung ist einem definierten Software-Entwicklungs-Lebenszyklus zu folgen und das auch zu dokumentieren. Zu diesem Zweck beschreibt IEC 60601-1 einerseits die notwendigen Elemente eines solchen Entwicklungs-Lebenszyklus, verweist andererseits zudem normativ auf IEC 62304. Wesentliche Elemente sind zu Anfang eine detaillierte Anforderungsspezifikation aufzustellen, von der PEMS-Architektur und ggf. Design abgeleitet werden. Mit der Software-Integration begleitend finden Schritte der PEMS-Verifizierung und zum Abschluss der Validierung statt. Begleitet wird der Prozess (natürlich) vom Risikomanagement und – gemäß IEC 62304 – von weiteren Begleitprozessen wie Konfigurationsmanagement und Problemlösungsprozess. Soll das PEMS darüber hinaus in ein IT-Netzwerk eingebunden werden, enthält IEC 60601-1 ebenfalls Anforderungen an diesen Vorgang.
Anmerkung: Wir erörtern das Thema im Detail in unserem Fachbeitrag Software Lebenszyklus bei Medizinprodukten.
ME-Systeme
Wie oben bereits beschrieben beschreibt der Begriff „Medizinisches Elektrisches System (ME-System)“ eine Kombination („Funktionsverbindung“) aus einzelnen Geräten, von denen mindestens eines dieser Geräte im System ein ME-Gerät ist
In Kapitel 16 legt die IEC 60601-1 Anforderungen für ME-Systeme fest. Hier ist speziell zu beachten, dass in einem solchen System auch nicht-medizinische Geräte eingebunden sein können (Beispiel: Drucker, Bildschirme). Diese haben ein anderes Sicherheitsniveau las ME-Geräte, deshalb gibt es besondere Anforderungen in Hinblick auf Aufstellung und räumliche Anordnung, Begleitpapiere, Stromversorgung, Gehäuseaufbau, Trennvorrichtungen, Ableitströme, Schutz gegen mechanische Gefährdungen, Stromversorgungsunterbrechungen, Anschlüsse und Verdrahtung.
Elektromagnetische Verträglichkeit
Abschließend befasst sich IEC 60601-1 mit Anforderungen an die elektromagnetische Verträglichkeit, denn EMV ist untrennbar mit elektrischem Strom verbunden. Als Teil des obligatorischen Risikomanagement-Prozesses wird der Hersteller aufgefordert, die elektromagnetischen Phänomene, die am Einsatzort eines ME-Gerätes bzw. Systems vorherrschen, zu bewerten und zu berücksichtigen. Gleiches gilt in umgekehrter Weise für die elektromagnetischen Phänomene, welche durch das ME-Gerät bzw. System selbst erzeugt werden und die Leistungsfähigkeit anderer Vorrichtungen oder Geräte beeinträchtigen könnten. Für weitere Details wird an dieser Stelle auf die o.g. Ergänzungsnorm IEC 60601-1-2 verwiesen.
Fazit
Die IEC 60601-1 ist als Basis-Norm gemeinsam mit den Ergänzungsnormen und den jeweiligen produktbezogenen besonderen Festlegungen ein ausgesprochen umfangreiches Normenwerk und unbedingte Pflichtlektüre beim Inverkehrbringen aktiver, d.h. mit Strom versorgter Medizinprodukte (inklusive der darin enthaltenen Software).
Die gesamte Normenreihe ist schon aufgrund ihres Umfangs ständigen Aktualisierungen und Anpassungen unterworfen – so auch jetzt. Hinzu kommen geänderte regulatorische Anforderungen an Medizinprodukte, die sich aus der MDR ergeben, und auf die normativ Bezug genommen werden muss. Gleichzeitig hat die EU bislang nur sehr wenige einschlägigen Normen zur Verwendung mit der MDR harmonisiert – die EN 60601-1 (die „Europäische Ausgabe“ der IEC 60601-1) gehört leider nicht dazu.
Deshalb: falls Sie sichergehen wollen, die aktuellen Entwicklungen rund um die Normenreihe IEC 60601 zu kennen und über Trends informiert zu werden, damit sie diese bereits jetzt in Ihrem Produkt-Design berücksichtigen können: sprechen Sie uns gerne an! Wir unterstützen Sie bei allen regulatorischen Fragen.