Die Blockchain ist in aller Munde. Die meisten haben schon einmal von Kyptowährungen wie Bitcoin gehört, die auf der Blockchain-Technik basiert. Das Interessante daran: Die Blockchain ermöglicht es, Währungen unabhängig von Zentralbanken zu schaffen. Denn die Transaktionen laufen transparent und fälschungssicher ab, ohne dass dazu eine neutrale Instanz – auch Mittelmann genannt – erforderlich wäre. Niemand kann sich zu einer beherrschenden Position aufschwingen. Die Blockchain ist eine spezielle Art der Distributed-Ledger-Technologie (DLT), die im Gegensatz zu traditionellen Datenbanken über keine zentrale Datenspeicher- oder Verwaltungsfunktionalität verfügen. Alle Daten einer DLT-Transaktion werden im Detail erfasst und an mehreren Orten gleichzeitig gespeichert. DLT bietet damit eine überprüfbare Historie aller Informationen, die in diesem bestimmten Datensatz gespeichert sind. Kein Wunder also, dass vielerorts Goldgräberstimmung herrscht. Vom „neuen Internet“ ist bereits die Rede, jeder will seinen Claim abstecken, unter Analysten und Geldgebern ist die Euphorie groß. Die Marktforscher von Gartner prognostizieren, dass Geschäftsaktivitäten im Umfeld der Blockchain 2025 auf einen Umsatz von 176 Milliarden US-Dollar kommen werden. Die Summe der Venture-Capital-Investitionen in Blockchain-Technologien betrug laut Coindesk im ersten Halbjahr 2018 schon 1,7 Milliarden US-Dollar – fast dreimal so viel wie im gesamten Jahr 2017.
Auch große IT-Unternehmen und der deutsche Mittelstand zeigen sich extrem interessiert, die Zeit scheint zu drängen: „Viele Blockchain-Pilotprojekte gehen jetzt schnell in die realen Anwendungen über, weil Unternehmen und Regierungsstellen die Vorteile der Distributed Ledger und Smart Contracts jetzt klar sehen“, erklärt Robert Parker, Group Vice President of Manufacturing und Retail Insights von IDC. Andererseits lohnt es sich, nüchtern zu bleiben: Wenn die Zahl der Beteiligten überschaubar ist oder wenn nicht sehr viele Transaktionen durchgeführt werden müssen, wenn kaum Grenzen innerhalb von Unternehmen oder zwischen Unternehmen zu überwinden sind und die herkömmlichen Buchhaltungssysteme als Grundlage ausreichen, warum dann eine neue Technik einführen? Vor allem: „Wer sich mit der digitalen Transformation schwertut, der kann nicht plötzlich all seine Probleme lösen, indem er auf Blockchain und DLT setzt“, unterstreicht Oliver Gahr, Program Director Client Innovation & Blockchain im Forschungs- und Entwicklungszentrum von IBM in Böblingen. In vielen Fällen aber schlagen dann die DLT-Vorteile vehement durch: Dezentrale Strukturen, kein Mittelmann, Transaktionen, die fälschungssicher und unzugänglich gegen nachträgliche Manipulationen ein für alle Mal in einem Buchhaltungssystem (auf Englisch: Ledger) abgelegt werden können, verbunden mit der Möglichkeit, auch geringe Bezahlungen praktisch ohne zusätzliche Kosten durchführen zu können – all diese Eigenschaften machen sie für die Industrie hochattraktiv. Denn es gäbe dafür interessante Anwendungsfälle zuhauf. Wenn da nicht die gravierenden Nachteile der Blockchain-Technik wären, die sie für den Einsatz in der Industrie von vorneherein ausschließen. Dazu ein kurzer Blick auf die Kryptowährungen, den Ursprung der Blockchain-Technologie.
Um festzustellen, ob eine Transaktion konform abgelaufen ist, muss eine rechenintensive Aufgabe gelöst werden. Wer das als Erster geschafft hat, wird mit einer Bitcoin-Einheit belohnt. Diesen Vorgang nennt man „schürfen“. Inzwischen hat sich das Schürfen – zumal in Zeiten rasant steigender Bitcoin-Kurse – als finanziell so interessant erwiesen, dass die Hersteller integrierter Schaltungen inzwischen sogar spezielle ACICs (anwendungsspezifische integrierte Schaltungen) fertigen, die in den Mining-Servern arbeiten. Die Transaktionen aber fressen viel Energie und dauern lange. Hohe Transaktionskosten, lange Transaktionszeiten: Für viele potenzielle Anwendungen in der Logistik und Industrie sind das ganz einfach K.o.-Kriterien. Doch glücklicherweise gibt es Auswege: Viele Firmen arbeiten daran, die Blockchain-Technik so zu modifizieren, dass sie sich für die Industrie eignet. Oder sie setzen gleich auf weitere DLTs, die einfach auf die Anforderungen der Industrie zuzuschneiden sind.
Blockchain und DLT revolutionieren die Logistik
Die Palette der Anwendungen ist dabei enorm groß. Beispiel Logistik: Bisher ist der Transport von Containern auf Lastwagen, Zügen und Schiffen rund um die Welt ein hochkomplexer Prozess, in dem Transportunternehmen, Reeder und Logistik-Firmen genauso mitmischen wie die Behörden vieler Länder. Ein kosten- und ressourcenfressender Papierkrieg ist die Folge. Zu verfolgen, wo sich welcher Container gerade befindet, ist fast unmöglich. Das alles könnte schon bald Schnee von gestern sein, denn über DLT ließe sich all das automatisieren. Die Auswirkungen auf die Logistik wären enorm. So will Samsung Electronics mithilfe der eigenen Blockchain-Nexledger-Plattform Lieferkosten sparen. Das hört sich zunächst nicht spektakulär an. Doch Samsung rechnet mit nicht weniger als 20 Prozent, was Milliarden von Dollar pro Jahr bedeutet – wahrlich keine Peanuts! Das sehen auch andere so: Anfang des Jahres haben IBM und Maersk ein Joint Venture gegründet, das eine gemeinsam entwickelte digitale Plattform für den globalen Handel bereitstellen soll. Sie basiert auf offenen Standards und ist zugeschnitten auf das weltweite Schifffahrtsökosystem.
Datenökonomie ohne Transaktionsgebühren
Beispiel industrielle Produktion: In der Industrie fallen riesige Datenmengen an. Zumeist können Dritte sie nicht nutzen, weil die Firmen sie nicht herausgeben wollen. Erstens bestehen Sicherheitsbedenken, zweitens lassen sich die Daten nicht kaufen und verkaufen, weil die Abrechnung zu kompliziert und teuer wäre. Nicht jedoch auf Basis von DLT. Eine Firma, die von Anfang an auf DLT gesetzt hat, ist IOTA. In der Rechtsform einer Stiftung will das Unternehmen Dritten die Technik zugänglich machen, die nicht wie die herkömmliche Blockchain funktioniert, sondern auf Basis gerichteter, antizyklischer Graphen (DAG), dem sogenannten Tangle. Schürfer gibt es hier nicht. Die Validierung ist also eine inhärente Eigenschaft des Netzes und nicht mehr von der Nutzung des Netzes zu trennen. „Damit umgehen wir die Blockchain-Nachteile“, sagt Ralf Rottmann, Vorstandsmitglied der IOTA Stiftung. Zu IOTA gehört auch eine Kryptowährung, weil nur so die transaktionsgebühren-freie Datenökonomie zu realisieren sei, die IOTA vorschwebt: „Transaktionsgebühren sind ein Relikt aus der zentral organisierten Zahlungswirtschaft“, so Rottmann. Das hat Firmen wie Bosch, Deutsche Telekom, Fujitsu, Microsoft, Schneider Electric und Volkswagen offenbar überzeugt, die mit der IOTA Foundation zusammenarbeiten, um IoT-Systeme zu entwickeln. Im ersten Quartal dieses Jahres wollen VW und IOTA einen Digital Car Pass zur Identifizierung von Autos vorstellen, der Betrug im Gebrauchtwagenhandel deutlich reduzieren soll. Zu einem wesentlichen Bestandteil der Industrie 4.0 entwickelt sich die 3D-Druck-Technik. Auch hier kommt es darauf an, die Daten von den Entwicklern der Produkte zu den Maschinen, die irgendwo rund um die Welt stehen können, zu verschicken – fälschungssicher und nicht manipulierbar. Dr. Martin Holland, Leiter Strategie und Business Development von PROSTEP, arbeitet im Rahmen des Verbundprojekts „Secure Additive Manufacturing Platform“ (SAMPL) am Aufbau der Blockchain-Technik. Aktuell ist eine Transaktion innerhalb von einer Minute abgeschlossen.
Digitale Marktplätze für den Datenhandel
Das Potenzial haben auch andere entdeckt. Die 2014 in San Francisco gegründete Identify3D nutzt die Blockchain-Technik auf Basis von Hyperledger, um die Designs der Teile, ihre Fertigung und ihre Verfolgbarkeit in der digitalen Fertigung – wobei der 3D-Druck eine wichtige Rolle spielt – zu gewährleisten. Das Ziel: Die Integrität des Datenflusses von der Konstruktion bis zur Produktion und den Schutz des geistigen Eigentums zu gewährleisten. Inzwischen arbeitet Identify3D mit führenden Herstellern von 3D-Druckern, darunter auch mit Siemens. „Wir müssen zwischen dem internen Wert der Daten für ein Unternehmen und dem externen Wert der Daten für andere Unternehmen unterscheiden. Wir kümmern uns um den externen Wert der Daten“, sagt Henri Pihkala, Mitgründer und CEO von Streamr. Dazu hat Streamr ein begleitendes Netz entwickelt, nicht die Blockchain selber. Auf dieser Grundlage entsteht ein Marktplatz, auf dem jeder seine eigenen Daten verkaufen und Daten von anderen kaufen kann. Zunächst hat Streamr sein System in Etherium integriert, kann aber grundsätzlich mit allen DLTs zusammenarbeiten. Wie in der Anfangszeit des Internets ist noch nicht klar, welche Techniken und welche Firmen sich auf breiter Front durchsetzen und wie die Geschäftsmodelle im Einzelnen aussehen werden. Voraussetzung wäre, dass die Blockchains beziehungsweise DLTs mit so unterschiedlichen Beteiligten wie IoT, Big Data und KI sowie – ganz wichtig – auch staatlichen Regulierern zurechtkommen. Vor allem müssen sie so flexibel sein, dass sie sich auch auf neue, heute noch nicht vorauszusehende Entwicklungen anpassen lassen. Ob klein oder groß, ob Start-up oder etabliertes Unternehmen – die Nase vorne haben kann nur der, der sich jetzt nüchtern, aber intensiv damit beschäftigt.
Autor Heinz Arnold ist Editor-at-Large bei Markt & Technik.