"Es braucht eine zulassungsfähige Künstliche Intelligenz"
VDE: Sie hatten im Vorfeld einen Aspekt angesprochen, den ich noch einmal etwas vertiefen möchte. Sie hatten gesagt, dass Sie sich von der Automobilindustrie etwas abschauen können. Kann die Automobilindustrie auch umgekehrt etwas von der Schiene lernen?
Edel: Ich hatte ein interessantes Gespräch mit einem Tier-One-Supplier aus der Automobilbranche, bei dem es um die Lieferung von Sensoren für unsere Assistenzsysteme ging. Wir wollten, dass die Sensoren noch intelligenter und besser an unsere Bedürfnisse angepasst werden. Mein Gesprächspartner fragte mich daraufhin: "Wie viele Straßenbahnen werden weltweit pro Jahr verkauft?" Ich antwortete ihm, dass es etwa 600 sind. Daraufhin sagte er: „Selbst bei 600.000 verkauften Einheiten finden wir im Automotive-Bereich keine Unternehmen, die uns bei der Weiterentwicklung unterstützen.“ Ähnliche Gespräche haben wir auch im Zusammenhang mit Brennstoffzellen geführt. Im Automotive-Bereich wird es erst bei Millionenabsätzen interessant. Daher müssten wir mehr Entwicklungen aus der Automobilbranche, die für uns relevant sind, auf unseren Bereich übertragen.
Beim automatisierten, assistierten Fahren ist jedoch die Sensorik im Automotive-Bereich nicht für die spezifischen Anforderungen im Schienenverkehr geeignet. Die Bremswege unterscheiden sich erheblich aufgrund der unterschiedlichen Bereifung (Gummi auf der Straße, Stahl auf der Schiene). Obwohl solche Sensoren beispielsweise in der Militärtechnik oder Luft- und Raumfahrt vorhanden sind, sind sie für einen Hochgeschwindigkeitszug zu teuer. Derzeit verfolgen wir einen Hybridansatz, der die Intelligenz sowohl im Fahrzeug als auch in der Infrastruktur kombiniert. Kann eine solche Lösung auch im Automotive-Bereich genutzt werden? Diese Diskussion führen wir regelmäßig mit Vertretern der Automobilindustrie, dass es nicht nur darum geht, Fahrzeuge intelligenter zu machen, sondern auch die Infrastruktur. Die Eisenbahn verfügt schon über eine intelligente Infrastruktur. Daher können wir voneinander lernen.
VDE: Sie haben mich mit Ihren Argumenten zum Thema Künstliche Intelligenz überzeugt. Aber wie reagieren Ihre Kunden auf das Thema KI?
Edel: Kunden in unserem B2B-Geschäft sind beispielsweise Betreiber von Bahnfahrzeugen und Infrastrukturen. Sie sind sehr offen für die Erprobung neuer Technologien zusammen mit den Herstellern und im Rahmen von Kollaborationsplattformen, wie zum Beispiel Europe's Rail. Durch derartige europäische Projekte können wir Prototypen aufbauen und testen. Es gibt wenig Skepsis auf Kundenseite und viel Mut zur Innovation. Ein Beispiel für eine innovative Technologie ist das European Train Control System, das ein gemeinsames Sicherungssystem für den europäischen Schienenverkehr entwickelt hat. Die Idee wird gut aufgenommen und die Infrastruktur wird peu à peu nachgerüstet, um eine Systemlösung zu ermöglichen.
Bei KI gibt es ähnliche Herausforderungen. Wenn wir autonom fahren möchten, brauchen wir Streckendaten im Fahrzeug. Heutzutage muss ein Fahrzeug nichts über die Strecke wissen, sondern erhält Informationen über die Signalisierung. Doch für autonomes Fahren benötigen wir einen Streckenatlas, der bisher nicht existiert. Es müssen Informationen über Baustellen, Zustand der Strecke usw. jederzeit abrufbar sein. Dies ist eine Herausforderung, die digitale Lösungen erfordert, wie cloudbasierte Anwendungen.
Es stellt sich die Frage, wer dafür verantwortlich ist, wer möglicherweise ein Geschäftsmodell hat und wer die Kosten trägt. Die Diskussion darüber wird vermutlich schwieriger sein als die Suche nach Kunden für die Prototypenerprobung.
VDE: Das bringt uns zu der Frage nach den Herausforderungen bei der Integration von Künstlicher Intelligenz: Welche Spannungsfelder sehen Sie?
Edel: Siemens Mobility und die gesamte Branche verfolgen mit großem Ehrgeiz die Entwicklung einer zulassungsfähigen Künstlichen Intelligenz, die als Safe Artificial Intelligence (Safe AI) bezeichnet wird. Um eine Zulassung zu erhalten, benötigen Bahnfahrzeuge derzeit noch einen Fahrzeugführer, ähnlich wie bei autonomen Shuttlebussen auf der Straße. Dieser Fahrer kann im Notfall eingreifen und das Fahrzeug stoppen. Die Frage ist jedoch, ob eine Zulassung auch ohne menschliches Backup möglich ist.
Dazu haben wir das Projekt Safe-TrAIn ins Leben gerufen, bei dem relevante Akteure wie Kunden, Hersteller, das Eisenbahnbundesamt und andere Zulassungsstellen zusammenkommen. Unser Ziel ist es, eine für den Schienenverkehr zulassungsfähige KI-basierte Lösung zu entwickeln. Dies stellt unsere größte Herausforderung dar, nicht die Fähigkeiten des Systems, denn diese sind bereits sehr fortgeschritten.