Im Unterschied zu den Beratern von Oliver Wyman sind andere Forscher optimistisch. So kommen Wissenschaftler des Freiburger Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme in einer aktuellen Studie zu dem Schluss, dass sich eine verlässliche Stromversorgung auch ohne fossile Kraftwerke gewährleisten lässt: durch eine clevere Verquickung der Stromerzeuger und -verbraucher im Netz.
Auch Alexander Nollau sieht das so. „Sowohl die Nutzung erneuerbarer Energiequellen zur Stromgewinnung als auch das Einbinden neuer Verbraucher wie Elektroautos stellen das Netz zwar vor eine große Herausforderung“, sagt der VDE-Experte und Leiter Energy der vom VDE getragenen Normungsorganisation Deutsche Kommission Elektrotechnik, Elektronik, Informationstechnik (VDE|DKE). „Doch die lassen sich meistern, wenn wir neben dem Bau neuer Leitungen das Netz auch mit Intelligenz ausstatten.“
Entscheidend ist für Nollau das sogenannte Niederspannungsnetz, der letzte Teil des Stromnetzes, der zwischen den Trafohäuschen und den Anschlüssen in Haushalten und Gewerbebetrieben verläuft. Dort müssen bei Neubauten bereits seit geraumer Zeit „intelligente Stromzähler“ (Smart Meter) installiert werden. Seit Januar 2020 gilt zudem: Wer eine Photovoltaikanlage betreibt oder mehr als eine Mindestmenge an Strom pro Jahr verbraucht, muss einen bestehenden herkömmlichen Stromzähler durch ein intelligentes Gerät ersetzen.
Smart Meter registrieren penibel den zeitlichen Verlauf des Stromverbrauchs und übermitteln die Daten digital an den Messstellenbetreiber. Und der nutzt sie, um etwa bei einem Strommangel im Netz gezielt gegenzusteuern – zum Beispiel, indem er manche Verbraucher vorübergehend mit weniger elektrischer Energie versorgt. „Nicht jeder braucht immer die volle Anschlussleistung“, sagt Nollau. „Mit intelligenten Stromzählern plus Steuerungsmodul könnte sich die Versorgung je nach Bedarf variieren und anpassen lassen.“ Mit einer neuen Generation von Smart Metern, die den Stromfluss eigenständig regeln können, soll das künftig an jedem Hausanschluss automatisch bewerkstelligt werden.
Um den Ausgleich von Stromerzeugung und -verbrauch zu vereinfachen, setzt Nollau zudem auf eine zellulare Gliederung des Energiesystems: Künftig sollten Windräder, Photovoltaikanlagen, Gebäude und Ladestationen für Elektroautos in kleinen Einheiten kombiniert werden, deren Stromversorgung weitgehend unabhängig voneinander ist. „Dadurch muss weniger Strom über weite Entfernungen transportiert werden“, sagt Alexander Nollau. „Das entlastet das Netz und verringert das Risiko weiträumiger Stromausfälle.“
Clevere Technik und eine flexible Steuerung werden also künftig die Rolle eines Wächters über die Versorgungssicherheit übernehmen, wenn konventionelle Kraftwerke nicht mehr zur Verfügung stehen. Und die intelligente Vernetzung ist noch aus einem weiteren Grund von entscheidender Bedeutung: „Wenn der Strom doch einmal ausfällt, muss es die Möglichkeit zu einem sogenannten Schwarzstart geben“, sagt Hermann de Meer, Lehrstuhlinhaber für Informatik mit Schwerpunkt Rechnernetze, Rechnerkommunikation und Energieinformatik an der Universität Passau. Darunter verstehen Energieingenieure das Wiederanfahren des Stromnetzes aus eigener Kraft, ohne dafür Strom zur Verfügung zu haben, der von außen geliefert wird.
Nach dem großen Blackout in Südamerika im Sommer 2019 gelang das mithilfe großer Wasserkraftwerke. In Deutschland sorgen dafür bislang vor allem große Turbinen in fossilen Kraftwerken: Durch die Trägheit ihrer enormen Masse rotieren sie auch nach einem Stromausfall zunächst weiter – und liefern damit den nötigen Schwung, um die Stromerzeugung wieder anzuwerfen. Fachleute sprechen dabei von Systemdienstleistung.