Während Teile der Industrie die Bologna-Reform sehr begrüßt hatte – teilweise auch vorangetrieben hatte, zog man im VDE zwar mit den Bestrebungen des BMBF mit, machte aber in verschiedenen Papieren stets auf die Vorteile der traditionellen Ingenieurausbildung in Deutschland aufmerksam, die international einen sehr guten Ruf genoss. Man wollte zumindest die Vorteile beider Systeme miteinander kombinieren. So gab es ein bei der Anhörung bei Bundesbildungsministerin Bulmahn aber praktisch keine Gegenwehr seitens der Ingenieurverbände, die zum „Ingenieurdialog“ geladen wurden. Jegliche dort recht leise geäußerte Kritik tauchte in der gemeinsamen Presseerklärung gar nicht auf. Starke Gegenwehr leisteten indes vor allem die Technischen Universitäten, was schließlich auch nichts genutzt hatte.
Vor Bologna waren innerhalb Deutschlands die Studiengänge bei den jeweiligen Hochschultypen, Universität und Fachhochschule, sehr gut vergleichbar. Im Gegensatz hierzu konnte z.B. in den USA von Vergleichbarkeit der Studienabschlüsse der Hochschulen keine Rede sein, Stichwort „Elite-Uni vs. regionales College“. Auch ist Vielen nicht bewusst, dass der deutsche "Diplom-Ingenieur“ bzw. “Dipl.-Ing." sowohl akademischer Abschlussgrad als auch Berufsbezeichnung in einem ist. Dies ist in vielerlei Hinsicht vorteilhaft, z.B. unterstreicht es das große Vertrauen in die Berufsbefähigung deutscher Ingenieure.
Die Fachhochschulen haben die Diplomstudiengänge bei der Umstellung von durchschnittlich etwas unter 8 Semestern größtenteils auf 7 Semester gekürzt. Dafür mussten Fächer (z.B. Konstruktionslehre, Technische Mechanik und Werkstoffkunde) teilweise oder ganz aus dem Curriculum genommen, Zeiten der Abschlussarbeit gekürzt und/oder auch Praktikumszeiten verringert werden. Der Fachbereichstag Elektrotechnik (FBTEI) beklagte in den 2010er Jahren, dass das benötigte/gewünschte Fachwissen laut FBTEI-Fächerkatalog, der mit einer Lerntaxonomie (kennen, verstehen, anwenden) gekoppelt ist, noch nicht einmal in 8 Semestern abgearbeitet werden kann.
Bei den Universitäten hat sich die nominelle Gesamtstudiendauer von zum Master im Vergleich zum Diplom nicht verringert. Bei der Umstellung auf gestufte Studiengänge entbrannte eine intensive Diskussion um das Modell "6+4" oder "7+3". Bei einem 6-semestrigen Bachelor kann es nahe liegen, dass die Kandidaten ein stark grundlagenlastiges Studium absolvieren, was den Schluss zulässt, dass diese nicht den selben Grad an Berufsbefähigung erreicht haben, wie ein Fachhochschulabsolvent mit einem 7-semestrigen Bachelor. Daher wurden die Curricula an manchen Universitäten hinsichtlich der Verteilung des Grundlagenstoffes auf das Bachelor- und Masterstudium umgestellt.
Aktuell ist es so, dass von Universitäten kaum Bachelor-Absolvierende direkt in den Arbeitsmarkt einsteigen, sondern mit dem Master abschließen wollen. Während der Corona-Zeit sind sogar in den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) 80% der Studierenden ins Masterstudium gewechselt. Dies wird sich wahrscheinlich wieder auf einen geringeren Prozentsatz einpendeln. Im Ergebnis lässt sich konstatieren, dass Bologna hinsichtlich der Bachelor-Abschlüsse für den Arbeitsmarkt kein Erfolgsmodell ist.
Eine u.a. vom VDE beauftragte HIS-Studie untersuchte 2007 den aktuellen Stand des Bologna-Prozesses in der Elektro- und Informationstechnik sowie dem Maschinenbau in Deutschland. Von den 850 antwortenden Professoren waren 57% eher den Reformskeptikern zuzuordnen und viele Professoren nannten etliche reformbehindernde Faktoren und Rahmenbedingungen. Trotz der seinerzeit anhaltenden Skepsis waren bereits Ende 2007 80% der Studiengänge in der Elektro- und Informationstechnik und dem Maschinenbau auf das gestufte System umgestellt worden.
Neben der vorgeschriebenen Akkreditierung neuer gestufter Studiengänge, die ein Mindestmaß an Qualität sichern soll, wurde der Bologna-Prozess zum Anlass genommen, über eine Reihe qualitätsverbessernder Maßnahmen der Studiengänge nachzudenken und ggf. entsprechend einzuführen. In diesem Zusammenhang spielen u. a. Betreuungsgespräche, Evaluation, Studierbarkeit, Praxisbezug der Theorie, Einsatz neuer Lehr- und Lernmethoden oder mehr didaktische Schulungen für Professoren eine Rolle. Handlungsbedarf war ohnehin angebracht –auch ohne Bologna-Reform, da die Elektro- und Informationstechnik sich bereits zu dieser Zeit enorm hohen Abbrecherquoten bei steigender Tendenz gegenüber sah. Teilweise lagen und liegen die Gründe hierfür aber auch in den sinkenden mathematisch-physikalischen Fähigkeiten von Studienanfängern, die objektive Untersuchungen belegen und die die überwiegende Mehrheit der Professoren bestätigt. Diese Diskussion hat sich bis heute fortgesetzt. Was ist angesichts der heutigen Inflation guter Noten noch eine Eins Komma X in Mathe wert?
Ist das Ziel einer besseren Studierbarkeit und geringeren Abbrecherquoten aufgegangen? Tendenziell nein! Die vom VDE geschätzten Abbrecherquoten sind im betreffenden Zeitfenster der Einführung der Bologna-Reform unvermindert angestiegen. Andererseits lässt sich nicht sagen, wo diese Zahlen ohne die Reform heute lägen.
Der Bologna-Prozess bietet aber Werkzeuge und Chancen zur Flexibilisierung und höherer Durchlässigkeit des Bildungssystems. Das bedeutet z.B. dass man mit einem Bachelorabschluss zunächst in den Beruf einsteigen und später seinen Master machen kann – auch in einem angrenzenden Fach. Hierfür musste man die Bafög Bestimmungen nachjustieren. Es gab darüber hinaus eine Öffnung des Bildungssystems, indem die Anerkennung von beruflichen Leistungen (z.B. Techniker oder Elektromeister mit Berufserfahrung) die Zulassung zu Studiengängen an Fachhochschulen erleichtert sowie eine Anrechnung von beruflicher Tätigkeit auf Studieninhalte erlaubt. In der Praxis stellt in diesem Fall der Gap bei mathematisch-physikalischen Methoden eine große Hürde dar.
Bei allen Chancen bescherte uns die Reform leider eine schwer zu überschauende Vielfalt an Studienabschlüssen. Masterabschlüsse gibt es an beiden Hochschultypen. Die Ausrichtung von Studiengängen an Fachhochschulen kann anwendungs- aber auch forschungsorientiert sein. Die Stufungsmodelle an Universitäten variieren zwischen "6+4" und "7+3". Die Regelungen für Betriebspraktika sind z.T. höchst unterschiedlich. Die flexibleren Bildungswege ermöglichen 4 unterschiedliche Master: konsekutiver-, interdisziplinärer-, einzügiger- oder Weiterbildungsmaster. Die unterschiedlichen Zusätze "of science, sc." und "of engineering, eng." können von Hochschulen nach eigenem Ermessen vergeben werden.
Auch wenn mit "Bachelor" und "Master" nunmehr Abschlussbezeichnungen vergeben werden, die im Ausland allgemein bekannter sind, so ist doch die Vergleichbarkeit Studienabschlüsse innerhalb Deutschlands geringer geworden. Die gestiegene Unübersichtlichkeit geht einerseits zu Lasten der Studierwilligen, für die es zuvor nahezu ausgereicht hat, in etwa die Unterschiede zwischen Fachhochschule und Universität zu kennen. Andererseits müssen Personaler in den Unternehmen deutlich mehr Aufwand für die Bewertung eines in Deutschland erworbenen Bachelor- oder Masterabschlusses aufbringen müssen als es bei den Diplomstudiengängen der Fall war. Zumindest konnte eine Annährung der Studienabschlüsse innerhalb Europas erreicht werden. Eine Gleichmachung war ja nie das Ziel.
Mit der stärkeren Einbindung von Schlüsselqualifikationen ins Studium ist ein Dilemma entstanden. Schließlich muss dafür Fach- oder Methodenwissen weichen. Deswegen hat der VDE stets für integrierte Ansätze, z.B. im Sinne von Projektarbeiten geworben.
Auf einem Gebiet kann man bei Bologna von Erfolg sprechen: Die Attraktivität des Elektrotechnik-Studiums bei ausländischen Studierenden – vor allem aus Asien. Lange hatte China hier den ersten Platz, der mittlerweile durch Indien streitig gemacht wird. Aktuell meldet das CHE, dass sich im Wintersemester 2023 sage und schreibe 42% Nicht-Inländer in Elektro- und Informationstechnik eingeschrieben haben. Dieses Fach hat ohnehin den größten Anteil internationaler Studierender im gesamten Fächervergleich. Es täuscht allerdings darüber hinweg, dass bei etwa gleich gebliebener Erstsemesterzahl die Beliebtheit der Elektro- und Informationstechnik bei deutschen Schulabgängern weiter im Sinkflug ist.
Fazit nach 25 Jahren: Die Bologna-Reform ist Anfang der 2000er Jahre durchgezogen worden, ob die Ingenieurverbände dies wollten, oder nicht. Es gab im Vorfeld viel Kritik seitens des Lehrpersonals und vor allem der Technischen Universitäten, die im Nachhinein berechtigt scheint. Der „Dipl.-Ing.“ als Abschluss und Berufsbezeichnung ist weitgehend verschwunden. Es kann daher vorkommen, dass Absolvierende gar nicht mal wissen, dass sie sich „Ingenieur“ oder „Ingenieurin“ nennen dürfen und damit außerdem einen freien Beruf innehaben. Der Bachelor ist kein Erfolgsmodell (wird z.B. im öffentlichen Dienst schlechter bezahlt als ein Master), weil der überwiegende Teil der Studierenden sich für das Weiterstudieren entscheidet. Die Umstellung auf Bologna hat enorme Ressourcen gekostet, aber auch in die Akkreditierung muss das Hochschulpersonal regelmäßig viel Arbeit und Geld investieren. Immerhin hat die Bologna-Reform den Anstoß gegeben, an der Qualität der Studiengänge zu arbeiten und Maßnahmen umzusetzen. Dies führte leider nicht zu einer Verringerung der Abbrecherquoten kurz nach der Einführung der Reform. Die Vergleichbarkeit der Studiengänge innerhalb Deutschlands ist schwieriger geworden. Dafür ist die Annäherung innerhalb Europas gelungen und die Attraktivität für ausländische Studierende im Fach Elektro- und Informationstechnik enorm angewachsen und dauert bis heute an. Dass wir jedoch mehrheitlich die internationalen Top-Studierenden in ein deutsches Forschungsstudium oder Doktorat bekommen – so eine Vision, die bereits vor Bologna skizziert wurde – bleibt zu angesichts der Anziehungskraft von US-Eliteunis wie Berkeley, Stanford oder das MIT zu bezweifeln.