Sie ist ein Ergebnis des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) geförderten Projektes Redispatch 3.0, das sich damit beschäftigt, die Flexibilitäten von Kleinstanlagen im Niederspannungsbereich – wie Wärmepumpen, Elektrofahrzeuge, Batteriespeicher und PV-Anlagen – für das Engpassmanagement zu nutzen. Einblicke in das Projekt und die Entstehung der VDE SPEC geben M. Sc. Athina Savvidis, Projektmanagerin in der Abteilung Energy der DKE, und M. Sc. Marcel Otte, Senior Researcher am OFFIS – Institut für Informatik, im Experten-Interview.
Experten-Interview: Wie sich mit Redispatch 3.0 Flexibilitäten im Stromnetz besser nutzen lassen
Förderprojekt und VDE SPEC im Überblick
Worum geht es bei den Redispatch-Förderprogrammen? Was ist der Unterschied zwischen Redispatch 3.0 und den Vorgängerversionen?
Athina Savvidis: Wir haben es im Stromnetz damit zu tun, dass die Versorgung zunehmend dezentralisiert ist und immer mehr Einspeiseanlagen wie Windkraftanlagen und Solarparks angebunden werden. Um dem gerecht zu werden, wurden der regulatorische Rahmen und das bisherige Verfahren im Netzbetrieb in der Novelle des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes (NABEG 2.0) angepasst.
Redispatch 2.0 hat sich damit auseinandergesetzt, das Einspeisemanagement zu flexibilisieren. Es ging darum, Anlagen über 100 kW bzw. solche, die durch den Netzbetreiber fernsteuerbar sind, einzubinden. Es besteht allerdings immer noch die Problematik, dass im Norden oft sehr viel Strom erzeugt wird, den wir noch nicht in den Süden transportieren können, oder wir generell durch Erneuerbare Energien eine Spitze in der Einspeisung sehen. Anstatt die Leistung zu drosseln, wenn zu viel nicht transportierbare Energie zur Verfügung steht, verfolgt Redispatch 3.0 das Ziel, die Verbraucher lokal einzubinden und die eingespeiste Energie beispielsweise über E-Autos, Batteriespeicher & Co. aufzunehmen.
Automatisierte Prozesse, von denen Endkunden profitieren
Marcel Otte
| OFFIS - Institut für InformatikEin Ergebnis des Projekts ist die neue VDE SPEC 90032 V.1, die der VDE herausgibt. Welche konkreten Probleme werden gelöst?
Marcel Otte: Bisher hatten wir es mit größeren Anlagen zu tun, die nach Fahrplänen und Prognosen funktionieren und somit gewissermaßen vorhersehbar sind. Nun geht es aber darum, potenziell Millionen Haushalte aus dem Niederspannungsbereich einzubinden, die keinem Fahrplan in der Art folgen. Unser Forschungsprojekt hat sich damit befasst, welche technischen Prozesse es braucht, damit Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber dazu in der Lage sind, diese Aufgabe zu lösen. Wie lässt sich Flexibilität bereitstellen, welche Anreize kann man dafür schaffen, wie informiert man darüber? All diese Themen spielen in die Überlegungen mit hinein. Am Ende sollen automatisierte Prozesse stehen, durch die Endkunden direkt profitieren – und zwar über Anlagen, die mit einem intelligenten Messsystem (iMSys) angebunden oder über einen Aggregator gebündelt werden.
Damit das geschehen kann, haben wir uns im Projekt an bestehenden Vorgaben wie Redispatch 2.0, dem § 14a Energiewirtschaftsgesetz zur Integration von steuerbaren Verbrauchseinrichtungen oder dem Solarspitzengesetz orientiert. Auch Konzepte von VDE, BDEW oder die hybride Redispatch-Studie wurden berücksichtigt. Und wir brauchen als Basis für alle Maßnahmen natürlich den Smart Meter Gateway Rollout, der noch voll im Gange ist.
Zahlreiche Akteure am Entwurf der VDE SPEC beteiligt
Warum braucht es einen Standard, und wie wurde ein übergreifender Konsens erarbeitet?
Athina Savvidis: Um Erzeugung und Verbrauch effizient zu steuern, brauchen wir Interoperabilität auf allen Ebenen sowie einheitliche automatisierte Prozesse und Schnittstellen. Alle beteiligten Marktakteure brauchen eine einheitliche Sprache. Zudem darf es keine Wettbewerbsverzerrung geben, weshalb einheitliche Vorgaben für alle wichtig sind. All dies lässt sich ohne einen Standard nicht erreichen.
Der große Knackpunkt ist die Komplexität, denn wir haben sehr viele beteiligte Stakeholder. Neben den bekannten Akteuren aus Redispatch 2.0 werden nun auch Endkunden, die über Messstellenbetreiber bzw. Aggregatoren angebunden sind, integriert. Dies zu organisieren, ist kein leichtes Unterfangen.
Die Vorarbeit zum Standard, der mit dem Entwurf zur aktuellen VDE SPEC veröffentlicht wurde, haben ab 2022 das Förderprojekt und ab 2024 die erweiterte Projektgruppe geleistet. Es waren Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber beteiligt, Industriepartner, VDE, Forschung und Entwicklung, Hersteller von Smart Meter Gateways, die bereits die Anforderungen des BSI erfüllen – also ein wirklich großer, repräsentativer Querschnitt.
Wir haben jederzeit die Möglichkeit geboten, den Entwurf zu kommentieren, und mit dem Workshop auf der E-world hat die Phase der öffentlichen Kommentierung begonnen.
Athina Savvidis
| Milton Arias / VDEBlicken wir in den Alltag: Welche Auswirkungen hat Redispatch 3.0 auf den Endkunden?
Athina Savvidis: Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass nur PV-Anlagen, Batteriespeicher, E-Autos, Wallboxen und Wärmepumpen daran beteiligt sind und keine anderen Verbrauchseinrichtungen im privaten Haushalt. Ein Endkunde steht also morgens auf, hat ein warmes Haus und ein geladenes E-Auto. Im Lauf des Tages erzeugt die PV-Anlage vielleicht einen Überschuss, der in den Batteriespeicher oder das E-Auto fließt. In einem Smart Home könnte in so einem Fall auch die Wasch- oder Spülmaschine starten. Abends geht die Einspeiseleistung zurück, während die Netzlast oft steigt. Deshalb startet vielleicht das Laden des E-Autos erst in der Nacht zu einem günstigeren Tarif oder es wird über den tagsüber gefüllten Batteriespeicher erledigt.
Das heißt, im Alltag schränkt Redispatch 3.0 den Endkunden nicht ein – im Gegenteil, wer sich aktiv am Stromnetz beteiligt und flexibler Kunde wird, kann finanziell daraus einen Vorteil ziehen. Wer zum Beispiel Strom bezieht, wenn viel Energie zur Verfügung steht und nicht transportiert werden kann, kann ihn lokal nutzen, um sein E-Auto sehr günstig zu laden. Das Schöne ist: Das Laden läuft auf Basis der Informationen von Netzbetreibern und Aggregatoren vollautomatisch. Im übertragenen Sinne muss man also nicht schnell zur Tankstelle fahren, weil der Sprit gerade billig ist.
Und wie sieht die Sache auf Seiten der Netzbetreiber aus?
Marcel Otte: Wir haben vier Übertragungs- und über 800 Verteilnetzbetreiber in Deutschland, das heißt, Koordination ist immens wichtig. Es darf nicht passieren, dass die Lösung eines Problems im Verteilnetz im Übertragungsnetz ein Problem auslöst oder andersherum. Ein anderer Aspekt, der sehr wichtig ist: Flexibilität muss in einem sicheren Rahmen angeboten und genutzt werden können. Daher bauen wir mit den Smart Meter Gateways eine sichere Infrastruktur auf, die für den systematisierten Informationsaustausch als Basis dient.
Detailinformationen
Was sind die größten regulatorischen und technischen Hürden für die Umsetzung von Redispatch 3.0?
Marcel Otte: Da wir vor allem eine technische Untersuchung durchgeführt haben und keine regulatorischen Rahmenbedingungen schaffen, haben wir uns an vergleichbarer Regulatorik wie dem EnWG § 14 a oder § 13 orientiert. Technisch könnten wir zu 100 Prozent flexibilisieren, aber es braucht einen Rahmen, wie viel Flexibilität bereitgestellt werden kann und soll.
Was die technischen Hürden angeht, muss man sich immer wieder vor Augen führen, dass potenziell Millionen technisch nicht versierter Endkunden einzubinden sind. Da sind Automatisierung und Standardisierung die großen Aufgaben, die im Detail zu lösen sind. Sicher ist, dass wir mit Redispatch 3.0 noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht haben und Endkunden Flexibilität auch für zukünftige markt- und netzorientierte Anwendungen anbieten können.
Welche wirtschaftlichen und ökologischen Vorteile erwarten Sie sich durch die Anwendung?
Marcel Otte: Wir orientieren uns an der Devise „Nutzen statt abregeln“. Anlagen zu „dimmen“, während parallel Speicher und Elektroautos diese Energie aufnehmen könnten und ungenutzt bleiben, zeigt ganz klar noch ungehobenes Potenzial. Wenn wir beispielsweise Eingriffe in Windparks vermeiden und die erzeugte Energie vollumfänglich lokal nutzbar machen, dann ist das ökologisch und wirtschaftlich von großem Vorteil.
Wie werden Kleinstanlagen in das System integriert, und wie wird ihr Potenzial an ungenutzter Flexibilität bewertet?
Marcel Otte: Angenommen, ein Netzbetreiber stellt zum Beispiel lokal einen Engpass fest. Er kann nun die Smart Meter Gateway Infrastruktur nutzen, um die vom Endkunden bereitgestellte Flexibilität zu aktivieren. Eine andere Möglichkeit bieten Aggregatoren: Sie aggregieren großflächig Anlagen von Endverbrauchern zu einem virtuellen Kraftwerk und vermitteln marktbasiert Flexibilitäten, die einem Netzbetreiber angeboten werden.
Die Bewertung potenziell vorhandener Flexibilität erfolgt von Netzbetreibern und, je nach Gegebenheiten, auch von Aggregatoren. Dafür gibt es modell- oder datenbasierte Algorithmen. Sie unterstützen dabei, problematische Situationen im Vorhinein zu identifizieren und somit Lösungen zu schaffen, bevor es Notfallmaßnahmen braucht. Auch Künstliche Intelligenz kann helfen zu erkennen, wo Spitzen zu erwarten sind, und deren Handhabung somit erleichtern. Im Rahmen des Förderprojekts wurden zwei Feldtests mit Netzleitherstellern, Netzbetreibern und Smart Meter Gateway Herrsteller durchgeführt, um gemeinsam mit den Forschungsinstituten die Qualität von solchen Prognosen zu validieren.
Welche Rolle spielen intelligente Messsysteme (iMSys) und CLS-Schnittstellen dabei?
Marcel Otte: Sie sind wesentliche Elemente der Kommunikationsprozesskette, die sich aktuell im Rollout befindet. Das Smart Meter Gateway zusammen mit einer modernen Messeinrichtung bilden das iMSys ab. Das Smart Meter Gateway kann den Zähler auslesen und die Information an den Netzbetreiber bzw. Aggregator übermitteln. Durch die CLS-Schnittstelle (Controllable Local System) am Smart Meter Gateway kann eine digitale Verbindung zum Energiemanagementsystem oder anderen steuerbaren Ressourcen, wie einem Batteriespeicher, hergestellt werden. So wird die Kommunikation zum Netzbetreiber und zurück möglich und Flexibilitäten lassen sich überhaupt erst nutzen.
Welche Kommunikationsprotokolle bzw. -standards werden für die Datenübertragung in Echtzeit genutzt?
Marcel Otte: Die Konzepte, die im Rahmen des § 14a zur Erweiterung der Steuerung entwickelt wurden, arbeiten bereits mit EEBUS als Kommunikationsschnittstelle. Da gibt es Use Cases, auf die wir aufsetzen können. Außerdem haben wir die vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) für die Umsetzung des § 14a veröffentlichte API (Programmierschnittstelle) für das Redispatch 3.0-Projekt angepasst. Ein letztes wichtiges Element ist der TAF 10 (Tarifanwendungsfall) des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), der es ermöglicht, Netzzustandsdaten im Smart Meter Gateway und die Statusinformation der am Gateway angeschlossenen Zähler bereitzustellen und zu versenden.
Haben Sie bereits Feldtests durchgeführt?
Athina Savvidis: Wir haben im Rahmen des Förderprojekts zwei Feldtests mit unterschiedlichen Topologien durchgeführt: einmal mit MVV Netze in Mannheim für den urbanen Bereich und einmal mit EWE NETZ in Oldenburg für den städtisch-ländlichen Raum. Dabei haben wir etablierte Netzleithersteller eingebunden und die von den Instituten entwickelten Algorithmen genutzt. Der technische Durchstich bis zum Endkunden fand statt, und es wurden theoretische Szenarien durchgespielt, wie bei einem Engpass Flexibilitäten genutzt werden könnten, da wir keinen echten Engpass erzeugen wollen im Rahmen solcher Tests. Die Ergebnisse liegen vor und werden derzeit ausgewertet. Eine Veröffentlichung erfolgt nach Projektabschluss bis Ende 2025.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie von der interessierten Öffentlichkeit erwarten?
Athina Savvidis: Ich wünsche mir, dass die Kommentierungsphase zur VDE SPEC intensiv von allen Marktakteuren genutzt wird. Je mehr fachliche Kommentare wir bekommen, desto höher sind Qualität und Akzeptanz des Standards am Ende.
Über DKE
Die vom VDE getragene DKE Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (DKE) ist die Plattform für rund 10.000 Expert*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung zur Erarbeitung von Normen, Standards und Sicherheitsbestimmungen für die Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik. Normen unterstützen den weltweiten Handel und dienen u. a. der Sicherheit, Interoperabilität und Funktionalität von Produkten und Anlagen. Als Kompetenzzentrum für elektrotechnische Normung vertritt die DKE die Interessen der deutschen Wirtschaft in europäischen (CENELEC, ETSI) und internationalen Normenorganisationen (IEC). Darüber hinaus erbringt die DKE umfangreiche Dienstleistungen rund um die Normung und das VDE Vorschriftenwerk.
Mehr Informationen unter www.dke.de
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Wir setzen uns ein für die Forschungs- und Nachwuchsförderung und für das lebenslange Lernen mit Weiterbildungsangeboten „on the job“. Im VDE Netzwerk engagieren sich über 2.000 Mitarbeiter*innen an über 60 Standorten weltweit, mehr als 100.000 ehrenamtliche Expert*innen und rund 1.500 Unternehmen gestalten im Netzwerk VDE eine lebenswerte Zukunft: vernetzt, digital, elektrisch.
Wir gestalten die e-diale Zukunft.
Sitz des VDE (VDE Verband der Elektrotechnik Elektronik und Informationstechnik e.V.) ist Frankfurt am Main. Mehr Informationen unter www.vde.com