Das wenige Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs in nur neunmonatiger Bauzeit zur Stromversorgung des benachbarten Kalkstickstoffwerks in Piesteritz errichtete Braunkohlengroßkraftwerk Zschornewitz gehörte bis zum Zweiten Weltkrieg zu den weltweit größten Wärmekraftwerken und steht für die Rüstungsanstrengungen des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg, vor allem für die Sicherstellung der Sprengstoffherstellung.
Beschreibung
erbaut: 1915-16 / 1920-21, 1922-23, 1926 / 1929-30 / 1939-44 / 1952-58 / 1970er, 1980er Jahre
Planung / Ausführung (1915/16): Georg Klingenberg / Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
Architekten: Werner Issel / Waltar Klingenberg (1915/16)
Die Planungen zum Bau des Kraftwerks Zschornewitz reichen bis ins Jahr 1913 zurück. Damals erwarb die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) das Aktienkapital der 1892 in Halle gegründeten AG Braunkohlenwerk Golpa-Jeßnitz. Dieses Unternehmen hatte in den folgenden Jahren die im Bitterfelder Braunkohlerevier gelegene Braunkohlengrube Golpa aufgeschlossen und hier eine Brikettfabrik und eine Ziegelei errichtet. Die AEG verfolgte mit dem Aktienerwerb den Plan, ihre Tochtergesellschaft, die Berliner Elektricitäts-Werke (BEW), aus einem an der Grube Golpa zu errichtenden Kraftwerk mit Strom zu beliefern. Der Plan gelangte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 jedoch nicht zur Ausführung.
Im Verlauf der ersten Kriegsmonate zeichnete sich infolge der englischen Seeblockade eine Abschnürung des Deutschen Reichs von den Salpeterlieferungen ab, die zu einem hohen Prozentsatz aus Chile kamen. Dies bedeutete eine Gefährdung der Versorgung mit Stickstoff, nicht nur als Grundlage der Düngemittelproduktion für die Landwirtschaft, sondern jetzt vor allem für die Munitions- und Sprengstoffindustrie. Die Reichsregierung verfolgte daher die Errichtung mehrerer Großbetriebe zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft. Bevor die nach der Hochdrucksynthese von Ammoniak aus Wasserstoff und Stickstoff (Haber-Bosch-Verfahren) arbeitende Großanlage in Leuna Anfang 1917 in Betrieb gehen konnte, war das Kalkstickstoffverfahren, auch als Frank-Caro-Verfahren bekannt, der bevorzugte Gewinnungsprozess von Ammoniak. Dieses Verfahren erforderte große Mengen an elektrischer Energie.
So wurde Mitte 1915 die AG Braunkohlenwerk Golpa-Jeßnitz in die neue Elektrowerke AG umgewandelt. Vertragsgemäß sollte ein Kraftwerk errichtet werden, um das in Piesteritz bei Wittenberg ebenfalls neu erbaute Kalkstickstoffwerk der Bayerischen Stickstoffwerke AG mit Strom zu beliefern. Vereinbart wurde eine installierte Leistung von 60.000 kW und eine jährliche Stromabgabe von 500 Mio. kWh. Nach Plänen von Georg Klingenberg, Vorstandsmitglied der AEG, entstand das neue Kraftwerk in der Gemarkung Zschornewitz in unmittelbarer Nähe der Grube Golpa. Zur Bewältigung der großen Liefermengen an Braunkohle wurde die Grube zu einem Großbetrieb ausgebaut. Innerhalb von nur neun Monaten wurde das Kraftwerk von der AEG als Generalunternehmer hochgezogen, ausgerüstet und im Dezember 1915 betriebsfertig übergeben. Das Maschinenhaus wurde als mit Backstein ausgefachte Stahlskelettkonstruktion errichtet. An den erhaltenen Relikten der Maschinenhalle (Foto 2) sind Abmessungen und Konstruktion der Halle noch nachvollziehbar.
Parallel zum Probelauf der ersten Turbine begannen schon die Arbeiten für eine Erweiterung auf die doppelte Leistung, um zusätzlich die Stromversorgung des benachbarten, neu errichteten Elektrosalpeterwerks der Elektro-Nitrum AG zu übernehmen. Nach Abschluss dieser Erweiterung waren insgesamt 64 Kessel mit jeweils 500 qm Heizfläche in vier Kesselhäusern mit neun 100 m hohen Schornsteinen aufgestellt, die den Dampf für acht Turbosätze von jeweils 16.000 kW (22.500 kVA) lieferten. Die Rückkühlanlage bestand aus 11 Kühltürme von jeweils 35 m Höhe. Mit dieser installierten Leistung von insgesamt 180.000 kVA war das Kraftwerk Zschornewitz damals das größte Dampfkraftwerk der Welt. Im Schalthaus (Fotos 3 und 4) waren außer der Schaltanlage die Transformatoren untergebracht, die die Spannung für die Stromlieferung an die Stickstoffwerke auf 82,5 kV heraufsetzten.
Die Anlagen des Elektrosalpeterwerks wurden im Sommer 1917 durch eine Explosion vollständig zerstört. Damit lag ein größerer Teil der Zschornewitzer Erzeugungsanlagen nun brach. Die Auseinandersetzungen zwischen der Elektrowerke AG und dem Reichsfiskus als Eigentümer des Piesteritzer Stickstoffwerks über angemessene Strompreise endeten damit, dass der Haushaltsausschuss des Reichstages im September 1917 die Übernahme des gesamten Aktienkapitals der Elektrowerke AG billigte. Seit Oktober 1917 war die Gesellschaft mittelbarer Reichsbetrieb und wurde dem Reichsschatzamt unterstellt. Um Ersatz für das als Stromabnehmer ausgefallene Elektrosalpeterwerk zu schaffen, beauftragte die Kriegsrohstoffabteilung die AEG mit dem Bau von zwei 100 kV-Doppel-Freileitungen nach Berlin und nach Bitterfeld. Die rund 130 km lange Hochspannungsleitung nach Berlin, genauer nach Rummelsburg (damals noch Teil der eigenständigen Gemeinde Boxhagen-Rummelsburg im Süden von Berlin), sollte die in unmittelbarer Nachbarschaft des dortigen Kraftwerks arbeitende kriegswichtige Aluminiumfabrik mitversorgen, die ihre Energie bisher ausschließlich von der BEW erhalten hatte. Über die 18 km lange Leitung nach Bitterfeld wurde das dortige Aluminiumwerk der Chemischen Fabrik Griesheim-Elektron AG an das Kraftwerk Zschornewitz angeschlossen.
Das Kriegsende brachte den Fortfall der beiden rüstungswichtigen Hauptstromabnehmer des Kraftwerks mit sich. Eine Kompensation war der 1919 abgeschlossene Stromlieferungsvertrag mit den Städtischen Elektrizitätswerken Berlin. Es wurden zunächst 16.000 kW und später 60.000 kW der installierten Leistung für die Versorgung von Berlin zur Verfügung gestellt. Weitere Stromlieferungsverträge wurden mit der AG Sächsische Werke (ASW) und mit der Elektrizitätswerk Sachsen-Anhalt AG (ESAG) abgeschlossen. Die ESAG bezog ihre Energie über eine 100 kV-Leitung zwischen Zschornewitz und Magdeburg. Auch die Städtischen Elektrizitätswerke Leipzig erhielten seit Anfang der 1920er Jahre einen Großteil ihres Stromes über eine 100 kV-Fernleitung aus Zschornewitz.
Zwischen 1920 und 1926 wurde das Kraftwerk durch den Bau zweier neuer Kesselhäuser mit 20 Kesseln und die Aufstellung weiterer fünf Turbosätze und Kühltürme auf 230.000 kW Leistung ausgebaut. Eine technologische Neuerung von beträchtlicher Bedeutung war 1927 die Einführung der sogenannten »Krämermühlen«, benannt nach dem damaligen Kraftwerksdirektor, auf den die Entwicklung maßgebend zurückging. Sie erlaubten das direkte Feuern der Kessel mit Rohbraunkohle, die am Fuße der Kessel mit Schlagradmühlen zerkleinert und als Braunkohlenstaub in die Kessel eingeblasen wurde. Betrieb und Wirkungsgrad der Kesselanlagen ließen sich dadurch erheblich verbessern, allerdings erhöhte sich auch die Belastung der Umgebung mit Flugasche aus der Kohlenstaubverbrennung.
Um der Ende der 1920er Jahre stark steigenden Stromnachfrage begegnen zu können, fiel im Herbst 1928 die Entscheidung, das Kraftwerk durch eine umfangreiche Erweiterung auf insgesamt 430.000 kW auszubauen. Alle Anlagenteile wurden entsprechend erweitert, ein neues Kesselhaus für 8 Kessel zu 1.000 qm Heizfläche errichtet, zwei neue Schornsteine und drei Betonkühltürme erbaut sowie das Pumpwerk an der Mulde zur Förderung von Zusatzkühlwasser vergrößert. Erweitert wurden ebenfalls die Bekohlungs- und Entaschungsanlage sowie die Schaltwarte und das Umspannwerk. Die neuen Dampfturbinen - zwei Sätze mit einer Leistung von jeweils 85.000 kW und einer mit 37.500 kW - kamen von der AEG und von Brown, Boveri & Cie. (BBC). Nachdem ein Teil der Kesselanlagen Mitte der 1930er Jahre modernisiert worden war, erfuhr das Kraftwerk nach Beginn des Zweiten Weltkriegs nochmals eine Erweiterung. Im Zuge des Baus einer Vorschaltanlage wurden erstmals vier Hochdruckkessel (mit Dampfleistungen von 200 t/h) aufgestellt, deren Dampf jeweils einen 20.000 kW-Turbosatz antrieb. Mit der 1944 fertig gestellten Vorschaltanlage erhöhte sich die installierte Leistung auf insgesamt 470.000 kW.
Einen tiefen Einschnitt im Kraftwerksbetrieb bildete 1945 die Demontage von mehr als der Hälfte der installierten Kraftwerksleistung. Mit dem Bau einer zweiten, im Mai 1958 fertig gestellten Vorschaltanlage verfügte das Kraftwerk wieder über 221.000 kW installierter Leistung. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden vier Kessel schrittweise auf Erdgas-Feuerung umgerüstet, zwei weitere für eine wahlweise Feuerung mit Erdgas oder Braunkohle eingerichtet. Infolge der Verteuerung des sowjetischen Erdgases gegenüber dem heimischen Energieträger Braunkohle wurde diese Maßnahme bis 1980 wieder zurückgenommen.
Ein neues Kapitel der Energieerzeugung am Standort Zschornewitz begann Anfang der 1970er Jahre mit dem Bau eines Gasturbinenkraftwerks. Um im Winter Lastspitzen abfangen zu können, wurden vier Gasturbinen von Alstom mit einer Leistung von jeweils 17 MW montiert. Bis 1988 kamen zwei weitere Gasturbinenblöcke mit insgesamt 6 Maschinensätzen hinzu, so dass die installierte Leistung in Zschornewitz 1988 insgesamt 597 MW betrug. Nach der Wende wurden die veralteten, jetzt im Besitz der Vereinigten Energiewerke AG (VEAG) befindlichen Anlagen des Dampfkraftwerks zügig stillgelegt. Die Gasturbinenkraftwerke blieben bis Ende des Jahrtausends als Spitzenlastreserve betriebsbereit. Infolge des weiter fallenden Strombedarfs wurden die Gasturbinen dann auch demontiert und verkauft.
Das Dampfkraftwerk Zschornewitz wurde bis auf Teile des Maschinenhauses, das historische Verwaltungsgebäude (Foto 5) sowie das Schalthaus nebst Verbindungsbrücke (Foto 6) vollständig abgeräumt. Im Schalthaus sind noch die Schaltwarte (Foto 8) und Teile der 110 kV-Schaltanlage aus den 1960er Jahren (Foto 9) erhalten. Ein im Juni 2014 noch vorhandener Kühlturm in Hyperboloid-Bauweise von 1938 (Foto 7) soll 2015 ebenfalls abgerissen werden. In den Gebäuden ist heute ein Museum untergebracht.
Informationsstand: 02.05.2016
Schlagworte: Elektrizitätserzeugung; Braunkohlenkraftwerke; Gaskraftwerke; Stromerzeugung; Energie; Energy
Stichworte: Berliner Elektricitäts-Werke; BEW; Kraftwerk Zschornewitz; Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft; AEG; AG Braunkohlenwerk Golpa-Jeßnitz; Bitterfelder Braunkohlerevier; Braunkohlengrube Golpa; Erster Weltkrieg; englische Seeblockade; Salpeter; Chile; Stickstoffversorgung; Düngemittelproduktion; Munitionsproduktion; Sprengstoffindustrie; Munition; Sprengstoff; Stickstoffgewinnung; Hochdrucksynthese; Ammoniak; Haber-Bosch-Verfahren; Leuna; Kalkstickstoffverfahren; Frank-Caro-Verfahren; Elektrowerke AG; Piesteritz; Kalkstickstoffwerk; Georg Klingenberg; Braunkohle; Stromlieferungsvertrag; Städtische Elektrizitätswerke Berlin; Aktiengesellschaft Sächsische Werke; ASW; Elektrizitätswerk Sachsen-Anhalt AG; ESAG; Städtische Elektrizitätswerke Leipzig; Krämermühle; Krämer; Schlagradmühle; Braunkohlenstaub; Alstom; Demontage; Gasturbinenkraftwerk; Vereinigte Energiewerke AG; VEAG; Spitzenlastreserve; Bayerische Stickstoffwerke AG; Elektro-Nitrum AG; Elektro-Salpeterwerke AG; Aluminiumfabrik; Rummelsburg; Ziegelei; Reichsschatzamt; Kriegs-Rohstoff-Abteilung; Chemische Fabrik Griesheim-Elektron AG; Brown, Boveri & Cie.; BBC; Vorschaltanlage; Hochdruckkessel; Demontage; Werner Issel; Waltar Klingenberg
Quelle(n)
- Volker Rödel, Reclams Führer zu den Denkmalen der Industrie und Technik in Deutschland. Bd. 2. Neue Länder, Berlin / Stuttgart 1998
- G. Bolzani, Zur Geschichte der Elektrowerke; in: Elektrowerke Aktiengesellschaft, Charlottenburg 1926, S. 5-11
- Christian Bedeschinski, Unsere Wurzeln. Die alten Kohlekraftwerke, Berlin 2011, S. 84-85
- Herlind Reiß, Kraftwerk und Kolonie Zschornewitz, Dessau 1995
- Georg Klingenberg, Bau großer Elektrizitätswerke. Dritter Band. Das Kraftwerk Golpa, Berlin 1920