Wasserkraftwerk Marbach (alt)_Bild1
2014 Norbert Gilson
19.07.2021

Wasserkraftwerk Marbach (alt)

Ludwigsburger Straße, 71672 Marbach am Neckar 

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VDE Ausschuss Geschichte der Elektrotechnik

Das 1899 in Betrieb genommene Wasserkraftwerk in Marbach am Neckar dokumentiert den schnellen Fortschritt der Elektrizitätsversorgung der Stadt Stuttgart, mit dem Wechsel von der 1895 eingerichteten Gleichstromerzeugung zur Drehstromerzeugung vier Jahre später. Die Gestaltung des Wasserkraftwerks im Stil der Neorenaissance erfolgte wohl mit Rücksicht auf die historische Bedeutung der Geburtsstadt Friedrich Schillers, in der 1876 das Schillerdenkmal von Ernst Rau eingeweiht und 1903 das Schiller-Nationalmuseum eröffnet wurde.

Beschreibung


erbaut: 1898-99
Ausführung: Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vorm. Schuckert & Co.
Architekt: A. Müller

Die Stadt Stuttgart verfügte seit 1895 über ein Dampfkraftwerk in der Stuttgarter Innenstadt (Marienstraße). Mit Hilfe von sechs Gleichstromgeneratoren (Außenpolmaschinen) der Nürnberger  Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vorm. Schuckert & Co. wurden von hier aus die Straßenbahn und vorwiegend private "Lichtkonsumenten" mit elektrischer Energie versorgt. Vor allem infolge des Ausbaus des Straßenbahnnetzes stieß die Anlage bereits 1898 an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Bereits 1891 hatte die Stadt Stuttgart ein Grundstück im Marbacher Mühlenviertel am Neckar mit der Absicht erworben, hier ein Wasserkraftwerk zu errichten. Dieser Plan war jedoch zunächst zugunsten des Dampfkraftwerks in der Innenstadt gescheitert.

Im März 1898 wurde das Konzessionsgesuch der Stadt Stuttgart zur Errichtung des Wasserkraftwerks in Marbach veröffentlicht. Zwar gab es verschiedene Einwendungen gegen den Bau, jedoch erteilte die zuständige Behörde des damaligen Neckarkreises im Juli die Baugenehmigung unter entsprechenden Auflagen. Mit der Ausführung des Kraftwerksbaus wurde wiederum die Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vorm. Schuckert & Co. unter der Leitung von Obering. Schmitz beauftragt.

Im Hinblick auf die malerische Lage Marbachs am Neckar und auf die Nachbarschaft des Bauplatzes zu historischen Mühlen entstanden die Kraftwerksgebäude - das Turbinenhaus mit zwei Anbauten und dem sechseckigen Treppenturm - als Backsteinrohbauten im Stil des Historismus mit Verblendmauerwerk, Eckquaderung und Fenstergewänden aus Sandstein. Der Turm mit steilem Pyramidendach vor dem nördlichen Treppengiebel soll ursprünglich auch für die Durchführung der Freileitungen gedient haben.

Die technische Ausstattung bestand aus vier Francis-Turbinen mit stehender Welle von jeweils 150 bis 220 kW Leistung der Heidenheimer Firma Voith. Von ihnen wurde vier Drehstromdynamos mit jeweils 220 kW Nennleistung der Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vorm. Schuckert & Co. angetrieben. Zwei 12 kW-Drehstrom-Gleichstrom-Umformer, ebenfalls von Schuckert, dienten zur Aufladung einer Akkumulatorenbatterie »System Tudor«, aus der zugleich die Stationsbeleuchtung und die Regeleinrichtung der Turbinen mit Strom versorgt wurden. Die vier Erzeugungsmaschinen waren für die ungewöhnlich hohe Primärspannung von 11.000 V eingerichtet. Zum Betrieb der beiden Umformermotoren wurde diese Spannung durch zwei kleinere Transformatoren auf 100 V heruntergespannt. Diese Transformatoren waren, ebenso wie die Sicherungen und die Leistungsschalter, in einem abgetrennten Raum der Maschinenhalle untergebracht.

Die vom Kraftwerk ausgehende, rund 20 km lange Freileitung wurde, ohne weitere Spannungstransformation, mit der Maschinenspannung von 11 kV betrieben. Sie endete in der Transformatorenstation »Prag« (in der Nähe Pragstraße / Rosensteinbrücke). Hier wurde die Spannung durch drei Transformatoren von jeweils 300 kW Leistung auf 3.000 V heruntergesetzt. Die Energie wurde dann über eine Kabelverbindung zunächst zur neu errichteten Unterstation Stöckach, zwischen den damaligen Stadtteilen Stöckach und Berg gelegen, und von dort aus zur Zentrale in der Marienstraße weitergeleitet. In Stöckach waren zwei, in der Marienstraße drei Umformer in Betrieb, die den Drehstrom in Gleichstrom für das Lichtnetz und für die Straßenbahn umwandelten.

Der gesamte im Marbacher Kraftwerk erzeugte Strom wurde in den ersten Betriebsjahren nach Stuttgart geliefert. Nach zähen Verhandlungen mit der Stadt Stuttgart, die sich im Wesentlichen um die Abgabekosten für die elektrische Energie drehten, konnte die Stadtgemeinde Marbach 1906 eine vertragliche Stromlieferung aus dem Wasserkraftwerk erreichen. Der Vertrag hatte eine 25-jährige Laufzeit mit anschließender 5-jähriger Kündigungsfrist. Stuttgart verpflichtete sich zur Lieferung von elektrischer Energie aus dem Kraftwerk, zur Errichtung einer Transformatorenstation und zum Bau eines 3 x 110 V-Drehstrom-Verteilungsnetzes in Marbach.

1936 wurde der Konzessionsvertrag von 1906 verlängert. Vertragspartner der Stadtgemeinde Marbach waren jetzt die 1933 gegründeten Technischen Werke der Stadt Stuttgart (TWS). Außer Stuttgart wurden von den TWS auch die Gemeinden Marbach, Poppenweiler und Mundelsheim über das inzwischen ausgebaute Stromverteilungsnetz versorgt. Nachdem die alte Zentrale in der Marienstraße bereits 1908 wegen fehlender Erweiterungsmöglichkeiten stillgelegt worden war, traf dieses Schicksal am Ende der 1930er Jahre auch das Marbacher Wasserkraftwerk. Erweiterungen waren hier nicht mehr möglich. Die im Wasserkraftwerk installierte Leistung von 900 kW fiel in der Gesamtleistung aller Stuttgarter Kraftwerke in Höhe von 98.855 kW kaum noch ins Gewicht. Im Oktober 1938 wurde das alte Wasserkraftwerk schließlich stillgelegt. Maßstäbe setzten nun die beiden im Süden von Marbach neu errichteten Kraftwerke.

Im Eingangsbereich zum Kraftwerksgelände fand sich im Mai 2014 noch ein Stahlguss mit den Buchstaben »TWS«, der an den früheren Kraftwerksbetrieb unter der Regie der Technischen Werke der Stadt Stuttgart erinnert.

Informationsstand: 15.05.2015
Schlagworte: Elektrizitätserzeugung; Laufwasserkraftwerke; Stromerzeugung; Energie; Energy
Stichworte: Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vorm. Schuckert & Co.; Straßenbahnnetz; Stuttgart; Historismus; Verblendmauerwerk; Eckquaderung; Sandstein; Technische Werke der Stadt Stuttgart; TWS; Francis-Turbine; J. M. Voith; Drehstromdynamo; Akkumulatorenbatterie System Tudor; Freileitung; Transformatorenstation Prag; Kabelverbindung; Unterstation Stöckach; Zentrale Marienstraße

Quelle(n)

  • Volker Rödel, Reclams Führer zu den Denkmalen der Industrie und Technik in Deutschland. Bd. 1. Alte Länder, Stuttgart 1992
  • Albrecht Gühring, »... daß man suchen sollte, sich eine Wasserkraft zu sichern«. Stuttgarter Kraftwerke in Marbach. (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Band 71), Stuttgart 1996

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