(Frankfurt a. M., 29.09.2023) Die Diskussion über den Ausbau des Stromnetzes konzentriert sich bisher vor allem auf den langwierigen und aufwändigen Bau von neuen Trassen und Leitungen. Der massive und beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien auf der Erzeugerseite sowie der Elektromobilität und von Wärmepumpen auf der Verbraucherseite führen zunehmend zu einem Betrieb der Verteilnetze an den Kapazitätsgrenzen. Damit drohen Engpässe in den Verteilnetzen und die Netzbetriebsführung wird immer komplexer. Die Energietechnische Gesellschaft im VDE (VDE ETG) kommt jetzt in einer neuen Studie zu dem Schluss, dass die zunehmende Komplexität und die wachsenden Herausforderungen nur mit einem aktiven Netzbetrieb und über Automatisierung bewältigt werden können.
Aktiver Netzbetrieb statt passiv-reaktiv
Der Betrieb von Nieder- und Mittelspannungsnetzen folgt gegenwärtig meist einem passiv-reaktiven Ansatz. In der Studie „Hochautomatisierung von Nieder- und Mittelspannungsnetzen“ zeigen die Expertinnen und Experten von VDE ETG auch anhand vieler Beispiele, wie mit Automatisierung vorhandene Netzkapazitäten besser ausgenutzt und die Effizienz des Netzbetriebs gesteigert werden können. Etwa indem die Versorgung automatisch wiederhergestellt wird, wenn es in einem Gebiet zum Beispiel wegen einer extremen Wetterlage zu einem Stromausfall kommt. Oder wie durch aktiven Netzbetrieb schneller mehr Photovoltaikanlagen oder Elektroautos ins Netz integriert werden können, weil der Leistungsfluss bei Bedarf beeinflusst werden kann, wenn Engpässe drohen. Ein weiteres Beispiel sind Systemdienstleistungen wie Frequenz- oder Spannungshaltung, die einfacher bereit gestellt werden können mit neuen Softwarelösungen oder besserem Datenaustausch.
„Die Komplexität hat inzwischen einen Grad erreicht, der umfangreiche Assistenzsysteme und Automatisierungsfunktionen in den Verteilnetzen erfordert“, erläutert Dr.-Ing. Sönke Loitz von der Netze BW und Leiter der VDE ETG Task Force, die die Studie zur Hochautomatisierung von Nieder- und Mittelspannungsnetzen erarbeitet hat. „Nur so kann die Netzführung die Komplexität beherrschen und die notwendigen Aufgaben und Entscheidungen umsetzen“, führt Loitz weiter aus.
Beobachtbarkeit und Steuerbarkeit – zwei Kernelemente der Automatisierung
Dennoch gibt es in Deutschland derzeit nur wenige Automatisierungslösungen im Nieder- und Mittelspannungsnetz, die über einen Pilotcharakter hinausgehen. „Das Ziel der Task Force war es daher, die Mehrwerte der Automatisierung in den Nieder- und Mittelspannungsnetzen klar herauszustellen und Handlungsempfehlungen für die verschiedenen Akteure im Umfeld eines (hoch-) automatisierten Netzbetriebs auszusprechen“, so Dr.-Ing. Karsten Viereck von der Maschinenfabrik Reinhausen, der die Task Force als Mentor aus dem VDE ETG Vorstand begleitete.
Derzeit sind unsere Mittel- und Niederspannungsnetze üblicherweise nur in geringem Maße beobachtbar oder steuerbar. Die Zustandserfassung, also die Herstellung der Beobachtbarkeit der Netze unter Wahrung aller notwendigen Maßnahmen zur Sicherstellung der Cyber-Sicherheit, ist ein wesentlicher Bestandteil der Automatisierung. Darüber hinaus ist vor dem Hintergrund der Elektrifizierung des Wärme- und Mobilitätssektors sowie der Integration von elektrischen Speichern die Steuerbarkeit von Betriebsmitteln wie etwa das Schalten aus der Ferne zur Realisierung von Automatisierungslösungen unabdingbar.
Es bedarf der richtigen Technik und der regulatorische Rahmen muss stimmen
Insbesondere wenn in den Nieder- und Mittelspannungsnetzen verstärkt eine aktive Netzführung angestrebt wird, ist aufgrund der großen Zahl an Nieder- und Mittelspannungsnetzen eine bedarfsorientierte Automatisierung erforderlich. Die VDE Studie zeigt einen praxisnahen Handlungspfad hin zu einem hochautomatisiertem Verteilnetz auf und identifiziert gleichzeitig weitere Anforderungen und Forschungsbedarf. Zusätzlich zu dem Ermöglichen eines aktiven Netzbetriebs durch entsprechende Änderung der regulatorischen Rahmenbedingungen ist es auch notwendig, diese Art des Netzausbaus dem konventionellen Netzausbau finanziell nicht schlechter zu stellen. Gleichzeitig sind Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen zum Beispiel Software-Updates aus der Ferne zulässig sind, ohne die Funktionen der Anlagen vor Ort erneut prüfen zu müssen. Auch Betriebsprozesse müssen automatisiert werden, um so z. B. die Datenlage und Datenqualität zu verbessern. Und nicht zuletzt sind bei der Transformation der Nieder- und Mittelspannungsnetze auch die Beschäftigten, etwa durch entsprechende Qualifikationsmaßnahmen mit einzubeziehen.
Die VDE ETG Studie „Hochautomatisierung von Nieder- und Mittelspannungsnetzen“ steht hier zum Download zur Verfügung.