Nach diesem Sachstandbericht aus erster Hand leitete der Gastgeber des Abends in die inhaltliche Debatte des Abends ein. Markus B. Jaeger: „Europa kann aus diesen Erfahrungen eine Menge für die Zukunft lernen. Was müssen wir aus dem russischen Angriff auf unsere gemeinsame Freiheit lernen? Wie können wir unsere Energieversorgung und den Energietransport in ganz Europa widerstandsfähig gestalten? Eine Lösung besteht darin, die Vielfalt der Energieerzeugung zu maximieren. Erneuerbare Energien spielen dabei eine wichtige Rolle. Bei den vielen Akteuren im Stromnetz müssen wir auch auf digitale Komponenten setzen. Diese beiden Komponenten - Energie und digitale Werkzeuge - müssen sicher miteinander verbunden werden. Wenn wir also feststellen, dass moderne Stromnetze zunehmend eine digitale Komponente benötigen und in einigen Fällen in Zukunft auch KI zum Einsatz kommen muss – öffnen wir damit nicht ein neues sicherheitsrelevantes Einfallstor für Sabotage. Öffnen wir mit einer zusätzlichen digitalen Komponente die Büchse der Pandora?“
Diese Fragestellung diskutierten nun Sebastian Hallensleben, Head of Artificial Intelligence & Digital Trust Department VDE, Chairman of Committee AI and Digital Trust EUREL, Chair of StandICT External Advisory Group and Technical Working Group in Trusted Information EU Commission, Chair Joint Technical Committee 21 “Artificial Intelligence” CEN and CENELEC, AI Expert for UNESCO and OECD und Alexander Nollau, Head of Energy, VDE Standardisation Organisation DKE unter Einbeziehung der Gäste.
Beide waren sich einig, dass - vor allem nach den beiden Keynotes der ukrainischen Kolleginnen – Resilienz ein sehr großes Thema sei. „Europa ist sehr verwundbar, insbesondere bei der Energie- und Kommunikationsinfrastruktur.“ Der russische Angriff auf die Ukraine habe eine andere Lektion gelehrt: Europa musste sich fast über Nacht vom russischen Gas entwöhnen. Es wurden relativ schnell andere Optionen gefunden. Ohne Probleme, ohne dramatische Auswirkungen auf die Verbraucher oder die Industrie. Die Entscheidung, kein russisches Gas mehr zu verwenden, war eine politisch-moralische, keine technische Entscheidung. Die Entscheidung wurde durch die Zerstörung von Northstream unumkehrbar gemacht. „Europa hat also bereits eine Menge Widerstandskraft. Die Energiewende wurde schon 2011 eingeleitet, aber Gas wurde noch als Brückentechnologie benötigt. Neben der Resilienz müsse man zunehmend auch die technologische und wirtschaftliche Abhängigkeit von China thematisieren. „Wir müssen uns in Europa auf Souveränität und auf Resilienz konzentrieren.“ Ein großes Aber wurde angesprochen: Was ist mit vorsätzlicher Sabotage – auch durch unfreundliche Staaten? Ist Europa dagegen wirklich gewappnet? Zur Erinnerung: Trinkwassermanipulation in Militäreinrichtungen. Sabotage des gesamten französischen Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes mit nur vier kleineren Brandanschlägen am Eröffnungstag der Olympischen Spiele. Ist Europa schon viel zu lange naiv? Gefordert wurde mehr militärisches Denken, mehr „in Szenarien denken“. Müssen wir in Europa unsere grundsätzliche Offenheit in Frage stellen? „Generell sind offene Daten von Vorteil, aber Daten über die Strom-, Kommunikations- und Wasserinfrastruktur sollten gefiltert werden und nicht für jeden zugänglich sein“, so eine Forderung in der Diskussion. Im Jahr 2022 gab es beispielsweise keine physischen Aktionen wie beispielsweise bei den jüngsten Anschlägen auf die Bahn in Frankreich, aber es gab viele ausländische Aktionen im Informationsbereich. „Wir befinden uns mitten im Zeitalter der KI-gesteuerten Desinformation. Wir sind darauf erschreckend unvorbereitet.“ Die anschließend diskutierte Fragestellung war, die diese ganzen Widrigkeiten verhindert und im Fall des Schadenseintritts behoben werden können. Eine der Thesen lautete, dass es bei der Energiewende nicht mehr nur um die Rettung des Planeten gehe, sondern auch um die nationale Sicherheit – eine bislang noch nicht so drastisch formulierte These. Fakt ist: Die dezentrale Energieerzeugung mit erneuerbaren Energien ist von Natur aus widerstandsfähiger als große zentrale Kraftwerke, die leicht Opfer von Raketenbeschuss und Sabotage werden können. Diese Annahme basiert allerdings auf dem Grundprinzip der Vernetzung erneuerbarer Energien. In der Praxis seien Stand heute nicht viele EE-Systeme in der Lage, im Inselbetrieb zu arbeiten, da die Energiespeicher noch fehlen. Durch den zunehmenden Einsatz von Heimbatteriespeichern werde es besser. Frage: Aber haben wir auch die entsprechende militärische Einstellung? Wissen wir, wann wir unsere besondere Liebe zu Prozessen, Sicherheits- und Umweltvorschriften beenden müssen? „Dieses Denken und Handeln mit doppelter und dreifacher Absicherung ist in Friedenszeiten sicherlich sinnvoll, in Krisenzeiten muss aber eine Neu-Priorisierung erfolgen. Was ist, wenn Teile der EU ohne Strom sind, brauchen wir eine europäische strategische Reserve für die Versorgung mit erneuerbaren Energien? Gebunkerte Paneele und Wechselrichter statt Öl und Gas?
Ist auch Wasserstoff für eine solche strategische Reserve tauglich – er wäre immerhin auch ein Speichermedium für Energie? Bietet er als in Europa produzierter Energieträger eine Chance für die Unabhängigkeit? Fakt ist, dass wir in ganz Europa Elektrolyseure und Brennstoffzellen in großen Mengen und auf jeder Ebene der Granularität benötigen, um die Dunkel- und Windflaute zu überbrücken. Hier müssen die europäische und jeweils nationale Politik koordinierte und strategische Entscheidungen treffen: kaufen oder herstellen.
Zurück zum eingangs moderierten Bild von der Büchse der Pandora: Wie ist es um die Cyber-Resilienz in der Europäischen Union, in den Mitgliedstaaten, den Unternehmen und Privathaushalten Europas bestellt? Hier hat die Europäische Union mit dem Cyber Resilience Act einen tatsächlich weltweit führenden Ansatz geschaffen. Es gibt ein klares Bild der Datenströme auch aus der Perspektive der Souveränität, z.B. Data Act.
Wenn wir nun also ein Gesamtbild von Energie und Kommunikation in einer Symbiose zeichnen, bei dem die Energieübertragung über die Grenzen der EU hinweg erfolgen soll, muss eine strategische Planung für ein gesamteuropäisches Netz gewährleistet sein. Die Energiegewinnung in Europa ist divers: Reichlich Wind und Sonne in Südeuropa, reichlich Wasserenergie in Skandinavien. Resilienz ist auf allen Ebenen zu berücksichtigen – vor allem in einem immer stärker digitalisierten Netz: Was sind die neuen Bedrohungen? Machen wir uns nicht noch anfälliger? Was ist das Pendant zur Huawei-Diskussion für die Strominfrastruktur? Was müssen wir in Europa tun? Es gibt keine Alternative zur Digitalisierung der Netze. Wir müssen zudem die Straßen aufreißen, um neue Kabel zu verlegen. Aktuell ist es noch nicht erkennbar, dass dies auch in den einzelnen Privathaushalten realisiert wird. Bei Letzteren wären intelligente Zähler die wesentliche Voraussetzung für die Digitalisierung der Netze, um Verbrauchs-/Nachfrageprofile vorherzusagen. In Sachen Smart Meter haben wir in Europa noch zu viele nationale Unterschiede. z. B. ist Italien bei der Fähigkeit und Einführung intelligenter Zähler weiter als Deutschland. Was wir am Ende dringend benötigen, ist eine europäische Vision für unsere gemeinsame Energie- und Kommunikationsinfrastruktur – auch aus einem militärisch-strategischem Blickwinkel. Die Zeit der Nachkriegs-Friedensromantik, befeuert durch den Fall des Eisernen Vorhangs und die zwischenzeitliche Annäherung ist seit Februar 2022 beendet. Hilfsmittel und Schlüssel für diesen strategischen Weg Europas hin zu einer resilienten und souveränen Energie- und Kommunikationsinfrastruktur sind Normung und Zertifizierung. Schlüssel ist aber auch eine ausreichende Anzahl von Elektroingenieuren. Wir müssen mehr davon in Europa ausbilden. Uns gehen langsam und stetig die Köpfe und Hände aus, die die technologischen Herausforderungen anpacken. Wir brauchen Experten in ganz Europa. Wir brauchen einen starken New Green Deal in Europa: Umweltschutz, Wirtschaft, Sicherheit und Ausbildung.