Das Motto des World Standards Day lautet: „Shared Vision for a better world.“ Es geht um eine Welt, die besser, gerechter und nachhaltiger ist. Was ist Ihre Vision für die Zukunft?
Meine Vision ist die All Electric Society, im Sinne eines zielführenden Konzepts, das uns zeigt, was zu tun ist. Die All Electric Society sieht vor, dass regenerativ und somit CO2-neutral erzeugte Elektrizität, die ausreichend und wirtschaftlich zur Verfügung steht, weltweit zur neuen primären Energieform wird und fossile Brennstoffe vollständig ersetzt. Damit lösen wir das Energiedilemma zwischen dem notwendigen Emissions-Stopp und einer wachsenden Weltbevölkerung mit einem steigenden Energiehunger. Wir können über Effizienzsteigerungen den Bedarf so weit als möglich reduzieren, aber Verzicht ist nicht die Lösung. Für eine gerechte Welt brauchen wir genug Energie für alle. Ein beliebter Einwurf ist auch, dass nicht alles elektrisch zu betreiben ist. Das ist korrekt. Wenn wir aber aus regenerativ erzeugter elektrischer Energie grünen Wasserstoff erzeugen, dann ist das nicht nur die Lösung für das Speichern und den Transport von elektrischer Energie, sondern auch für die Bereitstellung synthetischer Brennstoffe oder Gase für die Prozessindustrie oder den Verkehrssektor.
Ein gemeinsamer regulatorischer Rahmen kann die Anwendung kompatibler technischer Lösungen beschleunigen. Welche Bedeutung hat die Normung aus Ihrer Sicht für den Klimaschutz?
Der Gesetzgeber schafft mit der Regulierung einen gesetzlichen Rahmen, dazu gehören Schutzziele beispielsweise für Sicherheit, Interoperabilität oder Klimaschutz. Paritätisch besetzte Normungsgremien erarbeiten einen Weg zu einer ausgewogenen, am aktuellen Stand der Technik orientierten Ausgestaltung dieser Ziele und haben dabei Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft im Blick. Ohne Normen und Standards ist Klimaschutz nicht denkbar, denn sie erlauben synchronisiertes Handeln, schaffen Orientierung und Sicherheit und lassen Freiraum für Innovationen. Daran arbeiten wir in Europa sehr erfolgreich, und auf dieser Basis kann Deutschland als Impulsgeber mit technischen Lösungen aufzeigen, was möglich ist. Das ist, nebenbei bemerkt, auch unsere Verantwortung. Wir stehen, lässt man die Waldrodung in Indonesien und Brasilien außen vor, auf Platz 4 der Länder, die am meisten beigetragen haben zum heutigen Zustand des Weltklimas.
Gibt es Paradebeispiele, wo Standards und Normen einen Beitrag zur Nachhaltigkeit geleistet haben?
Da gibt es jede Menge Beispiele. Das aktuellste aus meiner Sicht ist die Elektrifizierung der Mobilität. In Deutschland verursacht der Mobilitätssektor 18 Prozent der Treibhausgase, das ist damit der drittgrößte Bereich. Gehen wir von 10 bis 15 Millionen E-Fahrzeugen bis 2030 aus, könnten wir die Treibhausgase in diesem Bereich um bis zu 25 Prozent reduzieren. Was aber braucht es für eine flächendeckende Nutzung? Unter anderem einen einheitlichen Ladestecker. Seit 2016 läuft die durch eine europäische Vorgabe geforderte Umsetzung, so dass Sie heute in Deutschland und Europa mit dem CCS-2 Steckersystem nach IEC 62196 laden können. Ähnliches geschieht gerade in Bereichen wie dem bidirektionalen Laden, also der Nutzung von E-Autos als Energiespeicher, oder der Automatisierung der Abrechnung an Ladesäulen.
Kommen wir zurück auf Ihre Vision: Wie steht die Wirtschaft zum Ansatz der All Electric Society? Und passiert schon genug in der Normung, um sie zu verwirklichen?
Fakt ist: Der Klimaschutz ist in den Unternehmen angekommen, sowohl in puncto Nachhaltigkeitskonzept für das Unternehmen selbst als auch in der Entwicklung nachhaltiger Produkte und Lösungen. Die All Electric Society hat in dem Kontext den Vorteil, dass sie keinen Widerspruch erzeugt zwischen Ökologie, Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit – das haben viele Unternehmen erkannt. Klimaschutz ist schlussendlich intrinsisches Interesse der Wirtschaft, denn in einer Welt, die von Klimachaos geprägt wird, ist wirtschaftlicher Erfolg ungleich schwerer zu erzielen.
Was wir in der Normung brauchen, ist das Zusammenfügen vieler Einzellösungen zu einem Gesamtkonzept. Die All Electric Society basiert auf einer energietechnischen Sektorenkopplung im Netz, also einem integrierten System aller Nutzer in der Mobilität, im Wärmesektor, in der Industrie etc. Die zu lösende Frage ist dabei nicht nur, wie Energieflüsse elektrisch oder physisch organisiert werden können. Zentral ist auch die informationstechnische Sektorenkopplung, denn für ein kluges Netz brauchen wir massenhaft Informationen aus allen Bereichen. Die Normung muss für beide Themen den architektonischen Rahmen schaffen. Die DKE hat sich als Leitbild für 2030 auf die Fahnen geschrieben, ihren Fokus auf die All Electric Society auszurichten – und die IEC hat 2022 in ihrer neuen strategischen Planung die All Electric Society als wesentlichen Schwerpunkt für die Zukunft aufgenommen. Da ist einiges in Bewegung, und das ist gut so, denn die Zeit zum Reden ist vorbei, wir müssen handeln.
Roland Bent ist Vorsitzender der DKE und Präsident des Nationalen Komitees des IEC, war von 2001 bis 2021 Mitglied der Geschäftsführung bei Phoenix Contact in Blomberg und ist dort seit März 2021 als Chief Representative International Standardization aktiv.
Weltnormentag 2022: Interviews zum Thema Klimaschutz und Normung
Die internationalen Normungsorganisationen und ihre nationalen Mitglieder feiern am 14. Oktober den Weltnormentag und verdeutlicht damit die Wichtigkeit von Normen und Standards. Der Weltnormentag 2022 steht unter dem Motto „SHARED VISION FOR A BETTER WORLD“ und stellt den Nutzen der Normung für die Erreichung der Sustainable Development Goals – und hier insbesondere den Klimaschutz – in den Mittelpunkt. Mit einer Reihe von Interviews mit interessanten Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik möchten die drei Regelsetzer DIN, DKE und VDI am Weltnormentag gemeinsam das Scheinwerferlicht auf die vor Wirtschaft und Gesellschaft liegenden Aufgaben im Kampf gegen den Klimawandel richten. Mit unseren Gesprächspartner*innen sprechen wir über die Herausforderungen ihrer Branchen, die Chancen der grünen Transformation und diskutieren Lösungen – wie z.B. Normen und Standards.
Alle Interviews finden Sie hier:
Burkhard Holder, Geschäftsführer VDE Renewables
Prof. Dr. Mario Schmidt, Leiter des Instituts für Industrial Ecology (INEC) der Hochschule Pforzheim
Harald Bradke, Vorsitzender des Interdisziplinären Gremiums Klimaschutz und Energiewende im VDI